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DIE KUNST ALS LEBENSERZEUGERIN

Lichte der Erkenntnis des neunzehnten
Jahrhunderts ward die Natur, welche
für die Weltanschauung der Vergangen-
heit als das Geschaffene dastand, zur
Eigenschöpferin. In ihr selber lagen
nun die lebenserzeugenden, die gött-
lichen Kräfte eingeschlossen, und sie
enthüllte sich als das ewig und allein
in sich selbst beschlossene Leben, das
nie ruht und still steht. Wenn die Cuvier und Agassiz noch
überall die Aufsenhand schauten, welche eine alte Welt jäh
in Trümmer schlug und eine neue in vollkommener Eigenart
aus dem Nichts hervorholte, entrollte sich jetzt das ganze
Dasein als ein Innenprozefs. Eine unermefsliche Einheit erhob
sich für unser menschliches Verstehen und Begreifen, eine
Einheit, die in einem unablässigen Wechsel und Wandel
begriffen war, keimte, sprofs und blühte, immer wuchs, sich
entwickelte und auseinanderfaltete. Nichts vollzog sich in
ihr, was nicht stets um uns geschah und in uns selber vor-
ging; jeder Stein, jede Pflanze und jegliches Tier war eine
Kleinwelt, in der sich das Leben der grofsen und ganzen
Welt wiederholte und dasselbe abspielte, was das Getriebe
des Alls bewegte. Sein war Leben, ein ewiges Wandeln und
Werden; Wesen und Ausdruck des Lebens bestand in einem
nie ruhenden Formen und Gestalten, in einem Schaffen und
in einem Schöpfen, im Zeugen und Gebären. Aber nun gab
es auch keine Urzeugung mehr, keine Schöpfung aus dem

Nichts hervor, sondern das Neue entstand, wie der Mensch
aus einer Samenzelle, wie Luft aus Sauerstoff, Stickstoff,
Kohlenstoff, Ammoniak5 aus neuen Verbindungen der Ele-
mente ging es hervor und jede neue Vermählung, Ver-
schmelzung und Nahrung bedeutete eine Umformung und
Neugestaltung.

Die grofsen Vermählungsprozesse der Natur, aus denen
ein Neues entsteht, tragen einen stürmischen Charakter und
vollziehen sich wie unter starken Erregungen. Wild gährt,
brodelt und braust es in der chemischen Retorte, bis sie
unter heftigem Knall zerspringt. Wie ein Kampf der Kräfte
untereinander ists, ein leidenschaftliches Ringen hinüber
und herüber. Das Lebensgefühl des Organismus scheint aufs
höchste gesteigert zu sein, all seine Energie strafft er zu-
sammen und auf seine ganze Stärke besinnt er sich. In den
Schauern eines Frühlings steht er und auf der Höhe seiner
Daseinslust. Er glüht in den Feuern eines Fiebers, heftiger
sind die Verbrennungen und rascher vollzieht sich der Stoff-
wechsel. Wie eine Krankheit ists, — aber in der Krankheit
rafft sich der Körper zu doppelten Anstrengungen auf, um
die verderblichen Stoffe von sich auszustofsen; niemals ist er
lebendiger und von heifserem Lebenswillen erfüllt. Kranken
und Gesunden ist eins, höchste Daseinsfreude und Daseins-
schmerz ringen mit einander. Alle Leidens- und Lustempfin-
dungen gehen in einander über, lösen sich gegenseitig auf
und verschmelzen mit einander, Lust wird zum Leiden,
Leiden zur Lust. Wollust-Schauer, Gefühle eines süfsen

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