POTSDAM UND DIE HOHENZOLLERN
IE Deutschen sind heute nach und
neben den Engländern das reisende
Volk geworden. Ein Deutscher, Karl
Baedeker, dem in jedem Zentrum
des Reiseverkehrs ein Denkmal ge-
bührte, hat den Mechanismus des
Reisens entwickelt. Seine Reise-
handbücher bilden ein kostbares
nationales Gut, dessen zugleich die
Gebildeten der ganzen Welt teilhaftig
sind, und seine Sterne weisen Hunderttausenden den Weg
durch das Wirrsal der Erscheinungen. Aber so fest gefügt dieser
Mechanismus dasteht, eine Methodik des Reisens haben wir
noch nicht ausgebildet, und dies gehört zu den Merkmalen
unserer unausgeglichenen Bildung. Den grofsen Opfern an Zeit
und Anstrengung, die uns das Reisen ohne Methode kostet, ent-
spricht sein Bildungswert — immer von Fachreisen abgesehen
— nur selten. Wir gehen zu einseitig auf künstlerische und
landschaftliche Masseneindrücke aus. Wer sich zu Hause das
ganze Jahr um Kunst nicht kümmert, wird für die wenigen Reise-
wochen ein leidenschaftlicher Kunstfreund, der sich keinen
Stern im Bädeker schenkt, wer sich unterwegs einen Monat
lang an den anerkannten Naturschönheiten nicht satt schwär-
men kann, wandelt den erheblichen Rest des Jahres in seiner
Heimat wie ein Blinder, und oft genug wird der Stofsseufzer
laut, dafs man die Vaterstadt erst kennen lernt, wenn man
Fremde zu führen hat. Was man von der Reise mitbringt, pflegt
ein wirres Konglomerat von allerlei Bruchstücken zusein, kein
klares Gesamtbild, dem sich die Einzelheiten einordnen.
Sollen die Reisen aus einem Nudelprozefs ein ernsthaftes
Bildungsmittel werden, so mufs die Fähigkeit sich vor-
zubereiten, zu sehen, zu unterscheiden, zu erkennen und die
mannigfaltigen Eindrücke zu einem ganzen, vereinfachten
Bilde zusammenzufassen, besonders geübt werden.
Wo in den Städten reichere Bildungsmittel vorhanden
sind, gehört die Anleitung zum Reisen zu den Bedürfnissen,
die nur deshalb nicht als drückend empfunden werden,
weil sie bisher noch nicht oder nur ausnahmsweise befriedigt
werden konnten. Es braucht jedoch nicht so zu bleiben.
In den Schulen ist die Heimatkunde ein fester Lehrstoff.
Aber leider nur für die Unterklassen, wo nur ein kleiner Teil
der Materie bewältigt werden kann. Wird sie in die Ober-
klassen verlegt und mit der Geschichte der Heimat verbunden,
so liefse sich an der Untersuchung der Vaterstadt die Stadt
als Organismus verstehen lehren, und die Einführung in das
künstlerische Wesen der Heimat würde die beste Vorbereitung
sein, die Eigenart der Fremde zu begreifen. Unmittelbar
müssten sich die Vorlesungen im Museum anschliefsen.
Hier wären an der Hand eines reichhaltigen Anschauungs-
materials an Plänen und Photographien die wichtigsten jeorts
in Frage kommenden Reiseziele nach ihrem topographischen,
historischen und künstlerischen Charakter deutlich zu machen,
immer in Anknüpfung an die Thatsachen der nächsten
Heimat. Wo dergleichen versucht wurde, waren Teilnahme
und Erfolg überraschend.
Wie wenig der deutsche Reisende in der Regel vorgebildet
ist, geht aus den Dispositionen hervor, die er für Berlin und
Umgebung zu treffen pflegt. Potsdam wird gewöhnlich
nebenbei besucht, an einem schönen Sommernachmittag,
wenn in Berlin der Asphalt weich wird. Wer seinem
Aufenthalt in der Hauptstadt einen ganzen Tag entzieht,
glaubt schon ein Uebriges zu thun. Ich weifs aus meiner
Erfahrung kein Beispiel, dafs sich jemand für einige Tage in
Potsdam einquartiert hätte, um es gründlich und behaglich
kennen zu lernen.
Nun ist aber Potsdam für den Deutschen ebenso wichtig
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IE Deutschen sind heute nach und
neben den Engländern das reisende
Volk geworden. Ein Deutscher, Karl
Baedeker, dem in jedem Zentrum
des Reiseverkehrs ein Denkmal ge-
bührte, hat den Mechanismus des
Reisens entwickelt. Seine Reise-
handbücher bilden ein kostbares
nationales Gut, dessen zugleich die
Gebildeten der ganzen Welt teilhaftig
sind, und seine Sterne weisen Hunderttausenden den Weg
durch das Wirrsal der Erscheinungen. Aber so fest gefügt dieser
Mechanismus dasteht, eine Methodik des Reisens haben wir
noch nicht ausgebildet, und dies gehört zu den Merkmalen
unserer unausgeglichenen Bildung. Den grofsen Opfern an Zeit
und Anstrengung, die uns das Reisen ohne Methode kostet, ent-
spricht sein Bildungswert — immer von Fachreisen abgesehen
— nur selten. Wir gehen zu einseitig auf künstlerische und
landschaftliche Masseneindrücke aus. Wer sich zu Hause das
ganze Jahr um Kunst nicht kümmert, wird für die wenigen Reise-
wochen ein leidenschaftlicher Kunstfreund, der sich keinen
Stern im Bädeker schenkt, wer sich unterwegs einen Monat
lang an den anerkannten Naturschönheiten nicht satt schwär-
men kann, wandelt den erheblichen Rest des Jahres in seiner
Heimat wie ein Blinder, und oft genug wird der Stofsseufzer
laut, dafs man die Vaterstadt erst kennen lernt, wenn man
Fremde zu führen hat. Was man von der Reise mitbringt, pflegt
ein wirres Konglomerat von allerlei Bruchstücken zusein, kein
klares Gesamtbild, dem sich die Einzelheiten einordnen.
Sollen die Reisen aus einem Nudelprozefs ein ernsthaftes
Bildungsmittel werden, so mufs die Fähigkeit sich vor-
zubereiten, zu sehen, zu unterscheiden, zu erkennen und die
mannigfaltigen Eindrücke zu einem ganzen, vereinfachten
Bilde zusammenzufassen, besonders geübt werden.
Wo in den Städten reichere Bildungsmittel vorhanden
sind, gehört die Anleitung zum Reisen zu den Bedürfnissen,
die nur deshalb nicht als drückend empfunden werden,
weil sie bisher noch nicht oder nur ausnahmsweise befriedigt
werden konnten. Es braucht jedoch nicht so zu bleiben.
In den Schulen ist die Heimatkunde ein fester Lehrstoff.
Aber leider nur für die Unterklassen, wo nur ein kleiner Teil
der Materie bewältigt werden kann. Wird sie in die Ober-
klassen verlegt und mit der Geschichte der Heimat verbunden,
so liefse sich an der Untersuchung der Vaterstadt die Stadt
als Organismus verstehen lehren, und die Einführung in das
künstlerische Wesen der Heimat würde die beste Vorbereitung
sein, die Eigenart der Fremde zu begreifen. Unmittelbar
müssten sich die Vorlesungen im Museum anschliefsen.
Hier wären an der Hand eines reichhaltigen Anschauungs-
materials an Plänen und Photographien die wichtigsten jeorts
in Frage kommenden Reiseziele nach ihrem topographischen,
historischen und künstlerischen Charakter deutlich zu machen,
immer in Anknüpfung an die Thatsachen der nächsten
Heimat. Wo dergleichen versucht wurde, waren Teilnahme
und Erfolg überraschend.
Wie wenig der deutsche Reisende in der Regel vorgebildet
ist, geht aus den Dispositionen hervor, die er für Berlin und
Umgebung zu treffen pflegt. Potsdam wird gewöhnlich
nebenbei besucht, an einem schönen Sommernachmittag,
wenn in Berlin der Asphalt weich wird. Wer seinem
Aufenthalt in der Hauptstadt einen ganzen Tag entzieht,
glaubt schon ein Uebriges zu thun. Ich weifs aus meiner
Erfahrung kein Beispiel, dafs sich jemand für einige Tage in
Potsdam einquartiert hätte, um es gründlich und behaglich
kennen zu lernen.
Nun ist aber Potsdam für den Deutschen ebenso wichtig
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