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Z.06

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rs

CONRAD ANSORGES LIEDERDICHTUNGEN

Helle Nacht . . .

Um ein Menschenpaar windet die schlaftrunkene Natur
Ewigkeitskränze ihrer sehnsuchtsseligen Lieder. Sie singt
vom Monde, der die Zweige küfst, von dem Flüstern des
Hains, der sich zur Ruh schweigt, von den schimmernden
Weiden, dem Wind, der in den Bäumen weint . . .

Den Blick starr in die Ewigkeit gerichtet, wo ihm der
Unendlichkeit dämmrige Bilder glühen, hört er nicht die
Natur, die ihm ihre heilige Pracht singt. Da plötzlich be-
sinnt er sich auf sich selbst. Leise gleitet er aus dem Traum
in die Wirklichkeit. Ihm ist, als drückten die warmen
Flügel seiner Seele die Geliebte an sein Herz und mit unend-
licher Sehnsucht weitet sich ihm die Brust:

Geliebte Du!

Und es klingt, wie wenn sich Hände um den Körper der
Geliebten mit schluchzender Innigkeit schmiegten, Hände,
die selbst leben, die lieben und mitten in dem singendem Ge-
glüh der Natur ihre Liebe wie eine Hostie über alle Zeit und
allen Raum hochrecken:

Geliebte Du!

Und wieder von Neuem dies Wiegen, dies Hin- und
Her-Träumen über die Niederung hin über dem Gefunkel
mondlichtgetränkter Nebel in verzückter Loslösung:

Wir träumen — träumen . . .

So hat Conrad Ansorge Verlaines Helle Nacht (in Deh-
melscher Uebersetzung) nachgedichtet. Verlaine hat, wie
so oft, auch in diesem Gedichte eine innere und eine äufsere
Empfindungsreihe ineinander geschoben. Dem Leser hat er

es überlassen, den doppelten Stimmungston herauszuhorchen.
Und gerade das Wertvollste an dem Gedicht, das „zwischen-
den-Zeilen", die unsagbar sublime Suggestion der Verlaine-
schen Empfindungswelt auf sein eigenes Herz und nicht das
Gedicht selbst, hat Ansorge gesungen.

Diese absolute, souveräne Subjektivität erhebt Ansorge
über die meisten Liederkomponisten; die tiefe innere Er-
regung, die in jedem seiner Lieder brandet, läfst es vergessen,
dafs man eigentlich eine Nachdichtung vor sich habe: An-
sorges Lied ist ein selbständiges Kunstwerk, ein starkes
inneres Erlebnis, das durch ein Bild, vielleicht nur durch ein
Wort des Gedichts in seiner Seele losgelöst wurde.

Ich denke mir, dals seine Lieder etwa so entstanden sind:
Er liest ein Gedicht, nein — er träumt sich in das Ge-
dicht hinein. Plötzlich: ein Wort, ein Bild, das sich in seine
Seele schlägt und sie befruchtet. Dies eine Wort, dieser eine
dunkle Eindruck bringt sein ganzes Sein in Erregung. Um
das eine Bild, das er aus dem fremden Gedicht gewonnen hat,
windet sich ein breites Band von Eindrücken und Ereignissen
seines eigenen Lebens. Vergessene Bilder werden wach, Er-
lebnisse, die schon längst vergessen schienen, fangen an zu
glühen, und All das wälzt sich, in Töne umgeprägt, hinauf,
schmiegt sich an das Wort an, rankt sich an ihm empor,
überwuchert es, und blüht auf in Zauberblüten, die aus seiner
eigenen Seele hochgeschossen sind.

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