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dem Stoff den Gedanken anpafst, dem Gedanken die jeweils
mögliche und zweckmäfsige Form giebt. Es läfst sich sehr
wohl denken, dafs eine der Obristschen Stickereien dem
Künstler den Vorwurf geben kann zur vollständigen Ausgestal-
tung eines Wohnraumes mit all seinen Erfordernissen; und es
steht zu hoffen, dafs Obrist und mit ihm andere Künstler,
jeder von seinem Standort aus, diesen Schritt thun werden.
Van de Velde hat ihn gethan, und zwar als der erste. In
einer späteren Geschichte unserer heutigen Kunstentwicklung
mag ihm diese That die zweite Stelle sichern nach dem
grofsen Bahnbrecher Morris. Auf allen Gebieten lehrt uns
die Geschichte, welche Zeit erforderlich ist, um den schaffen-
den Gedanken der grofsen Pfadfinder Leben und praktische
Geltung zu verleihen. Jahrzehnte mufsten vergehen, bis Vol-
taire und Rousseau in dem grofsen Geschlecht der Revolution
Leben wurden, bis ihre Worte sich in die That umsetzten.
So kann man van de Velde in besserem Sinne noch, als Morris
den Vollstrecker des Ruskinschen Testaments nennen. Vor
fünfzig Jahren schon hat Ruskin gelehrt, dafs die Kunst das
Leben in allen seinen Beziehungen durchdringen solle, dafs der
Künstler nicht Teil-Künstler sein, dafs er auch dem gering-
fügigsten Gegenstand seiner täglichen Umgebung seinen künst-
lerischen Stempel aufdrücken solle. Es hat all der Riesen-
Arbeit des Morris und seiner Mitarbeiter bedurft, um den
Boden so zu bereiten, wie ihn heute unsere Künstler vorfinden.
Diese Kunst ist die spezifisch moderne; die Kunst, die nicht Halt
macht vor Palast und Altar, die nicht mehr ihre vornehmste Auf-
gabe darin sieht, eine Religion, eine Staatsform, ein Herrscher-
geschlecht zu verherrlichen oder den Sonderbedürfnissen einer
bevorzugten Gesellschaftsklasse Rechnung zu tragen; die
Kunst, die herab- oder hinaufgestiegen ist zu dem Einzel-
menschen, wie er lebt und arbeitet, die Einzug hält in den
Palast, daneben aber auch der Hütte nicht vergifst. Nicht
das ist das Wahrzeichen des „modernen" Künstlers, dafs er
Freilicht malt oder einer symbolistischen Zeitströmung
Rechnung trägt, sondern dafs er seine Kunst empfindet als
integrierenden Faktor der allgemeinen Menschheits-Ent-
wicklung, dafs er sie in den Dienst dieser Entwicklung
stellt. Jeder, der künstlerisches Empfinden in sich trägt, weifs
in welchem Grade er von seinen vier Wänden abhängt;
wie eine unharmonische Umgebung, die meist nichts
anderes ist als der Ausdruck eines inferioren Tischler- und
Tapezierergehirns, auf seine eigene Stimmung entkräftend
wirkt; und wie andererseits die vollendete Harmonie des
Aeufseren eine gleiche Harmonie im Inneren hervorruft, sodafs
die Kunst in diesem Sinne nicht nur eine Erhöhung des Lebens-
genusses, sondern auch des Lebenswertes in seiner Auffassung
und seiner Bethätigung bedeutet. Gerade von diesem Gesichts-
punkt aus will van de Velde seine Kunst verstanden wissen.
In einem Brief zählt er die Folgen einer unharmonischen,
unpersönlichen Umgebung auf: aberration du sens de la
couleur, de la forme — s'e'tendant aux yeux, aux cerveaux,
du cerveau ä l'allure physique, au geste, du cerveau ä la
parole, au chant. Suivez la de'gradation de generation en
generation. L'idee nouvelle, c'est ä dire Fimperieuse necessite
d'un decor digne, serein et beau est sainte; de la saintete du
culte de la vie. Man thut vielleicht nicht Unrecht, van de
Velde den modernsten Künstler zu nennen.

*

Interessant ist es, wie der Künstler in jedem einzelnen
Fall seinen „point de depart" sucht; die hier veröffentlichten
Bucheinbände geben davon ein deutliches Bild. Im Gegensatz
zu den Engländern geht er nicht von der Natur unmittelbar
aus, von einem gegebenen Organismus, dem ter die Motive
dann im Einzelnen entnimmt. Er sucht in jedem Fall une
ligne interessante et nouvelle, ein Leitmotiv zu jeder neuen
Symphonie, deren Variationen dann sich zu dem Gesamtwerk
zusammenschliefsen. Darin liegt eine grofse Gefahr. Der
sichere Instinkt, das künstlerische Taktgefühl haben van de
Velde bisher davor bewahrt, in reine Phantasterei, in Manier
zu verfallen. Allen seinen Schöpfungen liegt, wenn auch
unbewufst, eine organische Idee zu Grunde. Aber die Ge-
fahr bleibt bestehen. Eine Begrenzung für seine künstlerische
Bedeutung könnte ihm eines Tages aus diesem Umstände
erwachsen, sobald er ein täglich erneutes Studium der Natur
vernachlässigt.

Eine Betrachtung seines Werkes im Einzelnen liefse sich
nur an der Hand zahlreicher Beispiele ermöglichen. Nur das
eine sei hier hervorgehoben, dafs seine Möbel mit dem, was
man heute gemeiniglich unter modernen Möbeln, diesen eng-
lischen und anderen Karikaturen englischer Originale versteht,
nichts zu thun haben. Jedes Stück bei ihm zeigt Festigkeit, Halt-
barkeit. Seine Linien sind einfach, ungebrochen; einer natur-
gemäfsen, zweckentsprechenden Konstruktion wendet er sein
Hauptaugenmerk zu. Die Linie von dem er im gegebenen
Zimmer ausgeht, kommt zu ihrer vollen ungebundenen Ent-
faltung nur in der Tapete, im Stoff, im Messingornament.
Im Möbel pafst sie sich streng dem aus dem Material und
seinem Zweck diktierten Gesetz an und jeder Wunsch nach
Originalität und Selbständigkeit beugt sich vor der Nützlich-
keit und vor dem Verlangen eine gröfstmögliche Haltbarkeit
des Stückes durch eine gesunde Konstruktion zu erzielen.
In diesem Sinne werden seine Möbel des Beifalls aller derer
sicher sein, die in Unkenntnis der wirklich guten Arbeit in
England, mit dem modernen Firlefanz, der unter englischer
Flagge segelt, die gesamten modernen Bestrebungen auf diesem
Gebiet über den Haufen werfen möchten.

Der Künstler arbeitet zur Zeit an einigen Einrichtungen
für Berliner Privathäuser; damit und durch die Veröffent-
lichungen im Pan, sowie in der in München erscheinenden
neuen Zeitschrift für dekorative Kunst, wird die Ausgestal-
tung seiner künstlerischen Gedanken, nicht wie sie für Aus-
stellungen bestimmt ist, sondern wie sie dem Haus dient,
in Deutschland schnell bekannt werden. Aber es darf dabei
nicht vergessen werden, dafs es sich dabei weniger um das
Resultat handelt, als um den Grundgedanken, der das
Resultat zeitigte. In der diesjährigen Ausstellung des Champ
de Mars fand sich kaum ein Möbel, das nicht seine Ab-
hängigkeit von van de Velde verraten hätte. Es steht zu
hoffen, dafs der Gedanke, der bei ihm zuerst zur That wurde,
dafs der Künstler das Leben in allen seinen Beziehungen mit
seinem künstlerischen Willen durchdringe, dafs dieser Gedanke
auch in Deutschland bald lebendige Wurzel schlage. Nicht
der Abhängigkeit, sondern der Selbständigkeit soll damit
das Wort geredet werden.

Freiherr E. v. Bodenhausen.

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