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DUERERS HOLZSCHNITTFOLGEN
|lER grofse Holzschnittfolgen besitzen wir,
die vollkommen ausreichen, um Dürers
Kunst in ihren wesentlichen Merkmalen zu
erfassen. Für eine erschöpfende Feststellung
des Umfanges seines Talents würde noch
J die Heranziehung seiner Stiche, seiner
Zeichnungen sowie derjenigen seiner Gemälde nötig sein,
in denen er, wie in den Apostelgestalten und einigen ver-
wandten Bildnissen, eine wirkliche malerische Einheit erreicht
hat. Doch mufs darauf hier verzichtet werden. Ein Meister
von der unerschöpflichen Erfindungskraft Dürers bietet schliefs-
lich in einem jeden seiner Werke so viel des Neuen, dafs sie
alle Anspruch auf eine eingehende Würdigung erheben
könnten, wo es gälte, nicht nur des Künstlers Art, sondern
auch den Inhalt seines Wesens zur Darstellung zu bringen.
Dazu würde aber nicht einmal eine erschöpfende Lebens-
schilderung den nötigen Raum gewähren.
Von diesen vier Holzschnittfolgen hat er die beiden
frühesten, die Apokalypse und die Grofse Passion (letztere
bis auf drei erst zwölf Jahre später hinzugefügte Blätter), im
Alter von 27 Jahren vollendet, 1408, da er .zur unum-
schränkten Herrschaft über die Darstellungsmittel gelangt
war und alles, was die Kunst seines Landes sowie die des
geistesverwandten Oberitalien ihm zu bieten vermochte, in
sich verarbeitet hatte. Sechs Jahre später, 1504, nachdem
er den bedeutsamen Schritt von einer blofs gefühlsmäfsigen
Aneignung der Natur zu deren bewufster Beherrschung auf
Grund bestimmter Verhältnisgesetze gemacht hatte, schuf er
den gröfsten Teil des Marienlebens. 1510 endlich, als voll
ausgereifter Mann von vierzig Jahren, fügte er der Grofsen
Passion wie dem Marienleben jene Blätter hinzu, welche so-
wohl in der Grofsräumigkeit ihrer Gesamtanlage, wie
andererseits in einer gewissen Willkür und Starrheit der
Formgebung den gewaltigen, aber auch gefährlichen Einflufs
einer fremden Geistesart — der italienischen, die er bei seinem
zweiten Besuch in Venedig, 1506, in einer gründlichen Um-
wandlung angetroffen hatte — bekunden. Derselben Zeit
gehört auch die Kleine Passion an.
Wie auf den drei genannten Stufen so hat Dürers Können
sich auch weiterhin mehr und mehr entwickelt, ist immer freier
geworden, bis er, zur Zeit seiner niederländischen Reise in
den Jahren 1520/2 1, die Umrisse wie kalligraphische Zeichen
anzuwenden vermochte. Dem hohen Schwung, der zarten
Anmut seiner Schöpfungen hat diese Aeufserlichkeit der
Darstellungsweise keinen Abbruch gethan; er blieb er selbst
bis an sein Lebensende. An rein künstlerischem Reiz aber
haben die Werke seiner späteren Zeit dadurch viel eingebüfst.
Ja der Niedergang in dieser Hinsicht begann bei ihm gleich
nach der Vollendung des ersten Meisterwerkes. In der
Apokalypse noch war alles herb, rauh, wild, dabei aber naiv,
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DUERERS HOLZSCHNITTFOLGEN
|lER grofse Holzschnittfolgen besitzen wir,
die vollkommen ausreichen, um Dürers
Kunst in ihren wesentlichen Merkmalen zu
erfassen. Für eine erschöpfende Feststellung
des Umfanges seines Talents würde noch
J die Heranziehung seiner Stiche, seiner
Zeichnungen sowie derjenigen seiner Gemälde nötig sein,
in denen er, wie in den Apostelgestalten und einigen ver-
wandten Bildnissen, eine wirkliche malerische Einheit erreicht
hat. Doch mufs darauf hier verzichtet werden. Ein Meister
von der unerschöpflichen Erfindungskraft Dürers bietet schliefs-
lich in einem jeden seiner Werke so viel des Neuen, dafs sie
alle Anspruch auf eine eingehende Würdigung erheben
könnten, wo es gälte, nicht nur des Künstlers Art, sondern
auch den Inhalt seines Wesens zur Darstellung zu bringen.
Dazu würde aber nicht einmal eine erschöpfende Lebens-
schilderung den nötigen Raum gewähren.
Von diesen vier Holzschnittfolgen hat er die beiden
frühesten, die Apokalypse und die Grofse Passion (letztere
bis auf drei erst zwölf Jahre später hinzugefügte Blätter), im
Alter von 27 Jahren vollendet, 1408, da er .zur unum-
schränkten Herrschaft über die Darstellungsmittel gelangt
war und alles, was die Kunst seines Landes sowie die des
geistesverwandten Oberitalien ihm zu bieten vermochte, in
sich verarbeitet hatte. Sechs Jahre später, 1504, nachdem
er den bedeutsamen Schritt von einer blofs gefühlsmäfsigen
Aneignung der Natur zu deren bewufster Beherrschung auf
Grund bestimmter Verhältnisgesetze gemacht hatte, schuf er
den gröfsten Teil des Marienlebens. 1510 endlich, als voll
ausgereifter Mann von vierzig Jahren, fügte er der Grofsen
Passion wie dem Marienleben jene Blätter hinzu, welche so-
wohl in der Grofsräumigkeit ihrer Gesamtanlage, wie
andererseits in einer gewissen Willkür und Starrheit der
Formgebung den gewaltigen, aber auch gefährlichen Einflufs
einer fremden Geistesart — der italienischen, die er bei seinem
zweiten Besuch in Venedig, 1506, in einer gründlichen Um-
wandlung angetroffen hatte — bekunden. Derselben Zeit
gehört auch die Kleine Passion an.
Wie auf den drei genannten Stufen so hat Dürers Können
sich auch weiterhin mehr und mehr entwickelt, ist immer freier
geworden, bis er, zur Zeit seiner niederländischen Reise in
den Jahren 1520/2 1, die Umrisse wie kalligraphische Zeichen
anzuwenden vermochte. Dem hohen Schwung, der zarten
Anmut seiner Schöpfungen hat diese Aeufserlichkeit der
Darstellungsweise keinen Abbruch gethan; er blieb er selbst
bis an sein Lebensende. An rein künstlerischem Reiz aber
haben die Werke seiner späteren Zeit dadurch viel eingebüfst.
Ja der Niedergang in dieser Hinsicht begann bei ihm gleich
nach der Vollendung des ersten Meisterwerkes. In der
Apokalypse noch war alles herb, rauh, wild, dabei aber naiv,
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