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gestikulieren; ein dritter birgt verzweifelnd den Kopf in
den Händen; ein vierter wirft einen Abschiedsblick auf seine
Stadt zurück; ein anderer, mit langem Bart, mit einem
Körper, ausgemergelt von Alter und Hunger, schleppt sich
nur mühsam weiter, gebeugten Rückens, während der letzte,
hoch aufgerichtet in zorniger Erregung, den mächtigen und
gewichtigen Schlüssel umklammert. Rodin giebt alle ver-
schieden, in ihrem Charakter, wie in ihrem Alter. Er bringt
die individuelle Empfindung sowohl in der Kopfhaltung, als
auch in der Verzerrung des Gesichts zum Ausdruck; ganz
ebenso aber auch durch demütigen oder stolzen Gang. Er
wollte den Vorgang gleichzeitig nach der Seite seiner Wirk-
lichkeit, wie nach seiner moralischen Bedeutung hin darstellen.
Dank seiner "Willenskraft und seines Genies hat er wie
Michelet Tragödien der Geschichte wieder aufleben lassen.
Seinen neuesten Statuen kommt nun ein vierzigjähriges
Denken, Arbeiten und stetes Weiterentwickeln zu gute,
keinem seiner "Werke aber hat er einen so bedeutenden Aus-
druck verliehen, als seiner Victor Hugo-Gruppe: Nackt wie

ein Heros sitzt der Dichter am Gestade, unbeweglich, traum-
versunken, umgeben von den Musen, die ihn inspirieren.
Seine Erfindung erhebt sich hier zu höchster Gröfse, wie
auch die Ausführung, freier als je, eine Meisterschaft beweist,
die, erfahrungsstark, die letzten Bande zerbricht und die er-
habenen Ziele der Meister der Vergangenheit erreicht.

So schliefst sich mit Rodin der Ring, die Kunst von
heute verbindet sich über Jahrhunderte hinweg mit der Ver-
gangenheit, und die Begeisterung, durch Erfahrung gereift,
schöpft wieder aus den ewiglebendigen Quellen, aus denen
das Genie der frühesten Völker schöpfte. Ein Dichter
der Haltung und der Geste hat Rodin durch Bewegung
und Form die Schrecken des Schmerzes, den Ausbruch der
Leidenschaft, die Zärtlichkeit der Lust versinnbildlicht; er
verlieh dem starren Marmor Gefühl und Empfindung und
gestaltete zur Verherrlichung seines Schöpfers den elenden
und vergänglichen Körper des Menschen zu rhythmischem
"Wohlklang und zu einem hohen Lied der Rührung, des Mit-
leid und schöner Träume!

Roger Marx

C 196 D
 
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