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REALISTISCHE ARCHITEKTUR

WAS hat den Bazar Wertheim, der gegen Weihnacht
1897 in der Leipziger Strafse eröffnet wurde, zum
populärsten Privatbau Berlins gemacht und dem Namen seines
Erbauers Alfred Messel einen so hellen Klang verliehen,
als hätte er ein Zugstück fürs Deutsche Theater geschrieben ?

Selbst das äufserlich weit pomphafter auftretende Gebäude
der Equitable an der Ecke der Friedrichsstrafse hatte es seiner-
zeit zu keinem ähnlichen Aufsehen gebracht. Nur Fachkreise
sprachen davon, das Publikum blieb ganz ungerührt, die
Presse nahm kaum Notiz.

Eine populäre Wirkung der Architektur sind wir kaum
noch gewohnt und es hält gar nicht so leicht, bei Messeis wich-
tigem Bau die Ursache des volkstümlichen Erfolges zu finden.

Wenige von denen, die aus allen Ecken und Enden Berlins
herbeiströmten, werden sich bewufst gewesen sein, dafs in
der ganz schlichten, gotisierenden Facade ohne Säulen, Pilaster,
Karyatiden und Gebälk die letzte Konsequenz aus einer langen
Reihe von Versuchen gezogen war, die bis auf Kaiser und
und von Grofsheims Germania an der Ecke der Friedrichs-
strafse und der französischen Strafse zurückgehen. Hier trat,
soweit ich mich besinnen kann, zum erstenmal der Typus
des modernen Geschäftshauses in die Erscheinung, wenn auch
nur für das Erdgeschofs und den ersten Stock, wo die Wände
durch grofse Glasscheiben ersetzt waren. Aber noch war die
ganze Facade mit dem bekannten Schema dekorativer Archi-
tektur übersponnen, das auch die weitere Entwickelung des
Typus in Berlin nicht aufgab. Wer bei Nacht, wenn die
Häuser nur von den Strafsenlaternen beleuchtet werden, durch

die Leipziger Strafse geht, sieht in Schäfers Equitable an der
Ecke der Leipziger- und Friedrichsstrafse das Schema der
Glaswände bis zum letzten Stock entwickelt, und er fühlt,
da er architektonische Details nicht mehr wahrnimmt, eine
enge Verwandtschaft mit Messeis Bau. Bei Tage sieht er,
dafs der Gotiker Schäfer seine Konstruktion in die land-
läufigen Renaissanceformen gekleidet hat. Messel selber hat
am Werderschen Markt vor zehn Jahren die grofsen Geschäfts-
häuser, die sich auf dem Grund der alten Münze und des
schönen Fürstenhauses erheben, sehr eigenartig mit Verzicht
auf tragende Eisenkonstruktion in der Facade errichtet. Aber
erst im Bazar Wertheim wagt er, die stützenden Steinpfeiler
nach Art gotischer Dienste in gerader Linie durch alle Stock-
werke bis zum Dach hinaufzuführen, statt, wie bisher üblich,
vier Pfeiler mit Basis und Kapital, von Gebälk durchquert,
übereinander zu stellen. Dafs er statt gotischer Fialen Obe-
lisken aufs Dach stellt, fällt dabei gar nicht auf, denn nirgend
hat er sich durch gotisches Detail die Hände gebunden.

Auch diese stilistische Ungeniertheit, die ein gotisches
Gerüst mit Barokformen schmückt, wird dem Berliner nicht
als etwas besonders Auffallendes gegenübertreten. Denn in
den letzten Jahren hat der zum Teil aus der Gotik heraus-
wachsende Stil Wallots und seiner Nachahmer ihn daran
gewöhnt, dafs der Architekt Stilreinheit nicht mehr ängstlich
nimmt. Und wie wenigen mögen dergleichen Finessen über-
haupt zum Bewufstsein kommen?

Es mufs schon die selbst dem blöden Auge sich auf-
drängende Eigenart des schlichten Werkes gewesen sein, das

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