Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
l£o fr&deric cm?i<Mffari^w<wiw«^wj(^c^^

DIE NIEDERLAENDISCHE DICHTUNG

DER LETZTEN ZWANZIG JAHRE

j OK einigen Jahren, vielleicht 1888, schrieb
ich im Feuer einer litterarischen Polemik:
Jeder Sachverständige wird wohl zugeben,
dafs eine Sprache nur gewinnen kann,
wenn sie möglichst reich und schmiegsam

. _______ erhalten wird. Die schwierigen Formen,

in denen die Modernen sich geben, tragen hierzu ganz wesent-
lich bei. Sie bereichern sie in kleinen Arbeiten mit nur zwei,
drei oder höchstens vier Endsilben durch neue Reimworte,
steigern ihre Ausdrucksfähigkeit durch Allitteration und
Blankvers und ringen vor allem darnach, für jede seelische
Empfindung den richtigen Ausdruck zu trefFen, und ihn
ohne jede Reminiscenz an klassische Vorbilder, frisch und
gesund aufs Papier zu bringen. Niemand wohl hängt auf-
richtiger an der niederländischen Heimat und ihrer Sprache,
und doch mufs ich bekennen, dafs unsere poetische Litteratur
seit 1830 — besonders in den vlämischen Provinzen des
Königreichs Belgien — bei weitem nicht auf der Höhe der
litterarischen Kunst anderer Völker gestanden und dafs unsere
ganze Dichtung Verse, wie man sie bei Leconte de Lisle
findet — man denke nur an Les Roses d'Jspahan, Le
Manchy, La Verandah, La Fontaine aux Lianes —
im Lauf des ganzen neunzehnten Jahrhunderts bis 1870
nicht aufzuweisen hat!

Und dennoch bietet unsere Sprache dem Dichter weit
reichere Hilfsmittel als die französische, von der selbst ein
Gautier erklärte:

„Car notre idiome ä nous, rauque et sans prosodie,
Contre quelque mot dur se heurtant dans son vol
Brise ses ailes d'or et tombe sur le sol."

So wahr und so richtig diese Worte in Bezug auf die
nord- und südniederländischen Dichter nach Bilderdyk sind,
so wenig trefFen sie den Dichtern gegenüber zu, welche
der jüngeren und allerjüngsten Generation angehören, be-
sonders denen gegenüber, die zwischen und nach 1875 bis
1880 zu schaffen anfingen, die sich aber jetzt schon, in
weniger als zwanzig Jahren, nicht nur die Kritik und das
Publikum, sondern ebenso die Redaktionen aller Monats-
schriften und den Schulunterricht erobert haben!

Alles aber, was so ungefähr von 1830 bis 1870 geleistet
worden, zeigt, mit Ausnahme des Aller-allerbesten, das heifst,
mit Ausnahme der besten Sachen eines da Costa, eines Beets,
eines Potgieter, eines Multatuli, in den eigentlichen Nord-
Niederlanden, und der schönsten Dichtungen eines van
Beers und eines Gezelle in Vlämisch-Belgien, deutlich die

C 245 D
 
Annotationen