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tout lc monde"läfst er von der kleinen Prinzessin Me'lisande
sagen. Die meisten seiner Gestalten verstehen selbst nicht,
was in ihrem Innern vorgeht. Sie führen ein schmerzens-
reiches Dasein in dem unheimlichen Dunkel eines Lebens,
dessen Sinn sie nicht begreifen. Sie verstehen nur zu fühlen
und zu leiden, darum erzittern sie in beständiger Furcht vor
dem Leid, das unabwendbar ist. Sie sind mit überraschendem
Ahnungsvermögen begabt und fühlen, was gewöhnlichen
Sterblichen verschlossen bleibt. Einmal befähigt sie diese
„hyperacuite de sentinient" in den schlichtesten Dingen
hehrste Wunder zu sehen, bis die Wirklichkeit mit rauhen
Händen hineingreift und sie zerstört, sie aber an der Er-
kenntnis der Nichtigkeit ihrer holden Träume zu gründe
gehen. Dann wiederum kann in den verborgensten Tiefen
ihrer Seele eine schlummernde Leidenschaft erwachen, der
sie willenlos gehorchen müssen, obwohl sie wissen, dafs sie
in den Abgrund des Verderbens treiben. So müssen sie ewig
lächeln, lieben und leiden, sie können nicht wollen. Mit
dumpfer Verzweiflung lehnen sie sich wohl einmal gegen
das unerbittliche Schicksal auf, fühlen aber, dafs es umsonst
ist, und sterben in stiller Resignation, fast dankbar, hinüber-
zugleiten aus dem qualvollen Sein ins erlösende Nichts. Es
liegt etwas vom Aufhören des Willens zum Leben in diesen
zarten Geschöpfen. Sie sind nicht an Raum und Zeit gebannt;
sie leben zu irgend einer Zeit an irgend einem Orte, der ihrer
jeweiligen Stimmung am trefflichsten entspricht, denn sie
verkörpern Empfindungen, die alle Menschen zu allen Zeiten
gemeinsam teilen. Sie personifizieren Seelenzustände, die
uralt sind, wie die Welt und über deren Sphinxrätsel die
Menschheit doch noch immer vergeblich nachsinnt.

Darstellen will er „ce qu'il y a d'etonnant dans le fait
seul de vivre." Und dies kleine wundersame Leben der Ein-
zelnen, das er uns vorführt, ist nur ein Symbol des grofsen
Jahrtausende alten Menschenlebens; hinter der schlichten
Handlung richtet es sich empor, mächtig erschütternd, zu-
rückstrahlend in die dunkelste Vergangenheit, hineinleuchtend
in die fernste Zukunft.

*

„LTntruse."1 Irgendwo in einem alten Schlosse, auf
einer einsamen Insel ist ein junges Weib schwer erkrankt.
Die Angehörigen haben sich in einer weiten Halle um den
bleichen Schein einer Lampe versammelt. Sie warten auf
die jüngste Schwester, die versprochen hat, noch diesen Abend
zu kommen, um die Kranke zu besuchen. Sie lauschen und
lauschen, sie wechseln gleichgiltige Worte — es ist ja keine
Gefahr mehr vorhanden, soeben hat sie der Arzt beruhigt.
Doch in ihren Seelen geht etwas vor, worüber sie sich selbst
nicht klar sind, ist's ein Ahnen künftigen Leids ? Die Lampe
flackert unruhig und droht zu verlöschen. Draufsen hört man
das „Schleifen einer Sense" — der Gärtner ist's nur, der das
Gras mäht. — „J'entends comme s'il fauchait dans la maison"
sagt der alte blinde Grofsvater. Die innere Unruhe wächst;
jedes kleinste Vorkommnis der Aufsenwelt nimmt eine hohe
symbolische Bedeutung an, und doch klingt, was sie reden,
so harmlos. „Mir scheint, es dringt Kälte ins Zimmer
herein" — „„Ein wenig Wind streicht durch den Garten,

1 Der Eindringling, hier weiblich gebraucht, weil es sich
auf la mort bezieht. Paris, Brüssel, Lacomblez. 189a.

Grofsvater, und entblättert die Rosen"" . .. „So schliefst
die Thür" — „„Wir können die Thür nicht schliefsen!""
Ist's der Wind, der sich dagegen stemmt? Nein — Jemand
will hinein. Es kommt mit langsamen, schleppenden Schritten
die Treppe herauf. Die Schwester mufs es sein! Sie lauschen
atemlos. Oder die Magd? Die Magd hat das Nebenzimmer
nicht verlassen. So war es doch vielleicht die Schwester?
Ihre Lippen lächeln. Ihre Seele beginnt wieder zu hoffen.
Niemand kommt — da erscheint die Pflegerin und macht
das Zeichen des Kreuzes. So hat sich dennoch eines ins Haus
geschlichen, ein Eindringling, der immer Einlafs zu finden
weifs: der Tod. Das ist einfach, menschlich, erschütternd.

Verwandt mit „l'Intruse" ist „l'Inte'rieur".1 Ein
liebliches Häuschen in mitten eines Gartens. Eine Familie
sitzt bei der Lampe. Vater, Mutter, zwei weifsgekleidete
Schwestern und ein Kind. Welch friedliches Bild! Da draufsen
stehen Leute, ängstlich flüsternd, und betrachten die drinnen
Sitzenden. Sie kommen, um mit einer entsetzlichen Trauer-
kunde diesen Frieden zu zerstören, denn schon bringen Dorf-
leute auf einer Bahre die jüngste Tochter des Hauses, die am
Morgen fortwanderte, ihre Grofsmutter jenseits des Flusses zu
besuchen, und sich in den Fluten ertränkt hat. Wie sollen
sie die Armen auf den furchtbaren Schlag vorbereiten ? Wie
ahnungslos sie sind! Sie lächeln und sagen sich gleichgiltige
Dinge. Sie wissen nicht, was in ihren Seelen vorgeht, bis ein
Ereignis kommt, das sie aufrüttelt, wie einst die Seele der
armen Toten aufgerüttelt ward. „Da sind sie nur durch
diese armseligen Fenster von ihrem Feinde getrennt", sagt der
Greis, den sie dazu ersehen haben, die Schreckensbotschaft
zu überbringen. „Sie glauben, es könne nichts passieren,
weil sie die Thüren geschlossen haben; sie wissen nicht, dafs
sich immer etwas in den Seelen ereignet und dafs die Welt
nicht mit den Hausthüren endet. Sie sind ihres kleinen
Lebens so sicher und ahnen nicht, dafs so viele andere weit
mehr darum wissen, und dafs ich armer Alter hier, zwei
Schritte von ihnen ihr bischen Glück wie ein krankes Vöglein
in den Händen halte, die ich nicht zu öffnen wage." Endlich
fafst er sich ein Herz und tritt ein. Nicht ein Wort be-
kommen wir zu hören von dem was drinnen gesprochen
wird. Doch die Aufsenstehenden verkünden uns, wie den
Armen allmählich eine Ahnung aufgeht. Die Mutter zittert
und erhebt sich — sie hat zuerst verstanden — und da steht
auch die Totenbahre vor der Thür.

Das tiefsinnigste jenes kurzen tragischen Bildes aus dem
wirklichen Leben sind die „Blinden" (les Aveugles)2,
denn ihre ergreifendeWirklichkeit schliefst eine philosophische
Idee von höchster Bedeutung in sich ein. Ein steinalter Priester
hat sich Blindgeborner erbarmt und ihnen auf einsamer Insel
ein Asyl gegründet. Heute hat er sie, wie alle Tage in den
Wald hinaus geführt und ist dann erschöpft auf einen Baum-
stamm gesunken und eingeschlummert. Die Dämmerung

bricht herein. Die Blinden werden hungrig und ungeduldig__

kommt ihr Beschützer noch nicht, sie heimzuführen ? Schauer-
lich fährt der Abendwind durch die Zweige. Es ist als ob
schwarze Vögel mit losem Flügelschlage über ihre Häupter
Atemlos lauschen sie und vertrauen sich in

hinstreiften.

• l'Interieur=das Innere eines Hauses. (Brüssel, Edmond
Deman).

2 Brüssel, Lacomblez. 1892.

C 255 ])
 
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