EIN KAPITEL
UEBER ENTWURF UND BAU MODERNER MOEBEL
VON
HENRY VAN DE VELDE
Entdeckungen hält man l||||j|||V\Mf gemeinhin für
das alleinige Eigentum dessen, 1| ' Mtf der sie macht.
Man hat das auch von meinen »Im ^| Gedanken ge-
glaubt. Ich aber behaupte, " ' dafs ich nichts
entdeckt habe, es sei denn, dafs eine Entdeckung in der Er-
kenntnis liegt, dafs es vollauf genügt, ein vernünftiger Mensch
zu sein, um sich von dem ganzen Schwärm der heutigen
Gewerbekünstler zu unterscheiden. Diese hegen in der That
ganz andere Sorgen, die einen, wie Morris und seine Nach-
folger, möchten der Tradition gemäfs schaffen; die andern,
die französischen Lieferanten des Champ de Mars, wollen
Phantastisches schaffen. Jene sind also beengt durch das, was
in den als künstlerisch gut geltenden Epochen geschaffen
wurde; die andern haben keinen Mafsstab, keinen festen Pol
des Urteils, an den sie sich halten könnten, um ihre Instinkte
zu zügeln, die ebenso widernatürlich sind, wie die Sucht
nach Schnaps oder faulen Gerüchen oder faden Süfsigkeiten.
Diese enden in gänzlicher, sinnbethörender Verwirrung.
Der Charakter meiner ganzen gewerblichen und ornamen-
talen Arbeiten entspringt einer einzigen Quelle: der Vernunft,
der Vernunftgemäfsheit in Sein und Schein; womit ohne
weiteres auch meine Sonderstellung und Fremdartigkeit ge-
kennzeichnet ist. Denn ich hätte vergeblich nach einem bessern
Mittel gesucht, um
anders als andre zu
schaffen. Mein Ziel
stecke ich mir freilich
höher; es gilt eine
neue Basis zu gewinnen,
von der aus wir einen
neuen Stil schaffen
wollen; als Keim
dieses Stils steht mir klar das Bestreben vor Augen: Nichts
zu schaffen, das nicht einen vernünftigen Existenzgrund hat,
und als sein allmächtiges Werkzeug die Grofsindustiie mit
ihrem gewaltigen Maschinenbetrieb und dessen vielerlei Folgen.
Zur Zeit allerdings herrscht eine wahre Vernunftfinster-
nis. Wir sind dahin gelangt, dafs wir die widersinnigsten
Dinge als vernünftig und die vernünftigsten als Wahnwitz
ansehen. Ich habe zum Beispiel Gelegenheit, immer wieder
folgendes Begebnis zu beobachten. Ich habe das Glück ge-
habt, mir selber ein Haus bauen zu dürfen; dieses einfache
Haus erweckt, wenn Leichenzüge daran vorüberkommen,
jedesmal unter den Leidtragenden eine plötzliche und un-
widerstehliche Heiterkeit. Und doch unterscheidet es sich
von denen, die daneben stehen, lediglich dadurch, dafs es
sehr bescheiden, nur durchaus logisch gebaut ist und nicht
den geringsten Schmuck aufweist. Ein anderes dahinter mit
phantastischen Masken und einem angehackten und völlig
unnützen hohen Turm erscheint als das vernunftgemäfse Haus
und meins als das wahnwitzige.
Ich könnte dasselbe von unsrer Frauenkleidung behaup-
ten; was ich zu Hause gewohnt bin, dem gegenüberstellen,
was ich auf der Strafse und in Gesellschaft sehe, und den-
selben Vergleich auf unser ganzes geistiges und moralisches
Leben ausdehnen.
Doch hier kommt
es mir nur auf Haus-
gerät an und auf die
Feststellung, dafs die
Vernunft unter einem
Wust von archäologi-
schen Kenntnissen und
launischen Verrückt-
C 260 3
UEBER ENTWURF UND BAU MODERNER MOEBEL
VON
HENRY VAN DE VELDE
Entdeckungen hält man l||||j|||V\Mf gemeinhin für
das alleinige Eigentum dessen, 1| ' Mtf der sie macht.
Man hat das auch von meinen »Im ^| Gedanken ge-
glaubt. Ich aber behaupte, " ' dafs ich nichts
entdeckt habe, es sei denn, dafs eine Entdeckung in der Er-
kenntnis liegt, dafs es vollauf genügt, ein vernünftiger Mensch
zu sein, um sich von dem ganzen Schwärm der heutigen
Gewerbekünstler zu unterscheiden. Diese hegen in der That
ganz andere Sorgen, die einen, wie Morris und seine Nach-
folger, möchten der Tradition gemäfs schaffen; die andern,
die französischen Lieferanten des Champ de Mars, wollen
Phantastisches schaffen. Jene sind also beengt durch das, was
in den als künstlerisch gut geltenden Epochen geschaffen
wurde; die andern haben keinen Mafsstab, keinen festen Pol
des Urteils, an den sie sich halten könnten, um ihre Instinkte
zu zügeln, die ebenso widernatürlich sind, wie die Sucht
nach Schnaps oder faulen Gerüchen oder faden Süfsigkeiten.
Diese enden in gänzlicher, sinnbethörender Verwirrung.
Der Charakter meiner ganzen gewerblichen und ornamen-
talen Arbeiten entspringt einer einzigen Quelle: der Vernunft,
der Vernunftgemäfsheit in Sein und Schein; womit ohne
weiteres auch meine Sonderstellung und Fremdartigkeit ge-
kennzeichnet ist. Denn ich hätte vergeblich nach einem bessern
Mittel gesucht, um
anders als andre zu
schaffen. Mein Ziel
stecke ich mir freilich
höher; es gilt eine
neue Basis zu gewinnen,
von der aus wir einen
neuen Stil schaffen
wollen; als Keim
dieses Stils steht mir klar das Bestreben vor Augen: Nichts
zu schaffen, das nicht einen vernünftigen Existenzgrund hat,
und als sein allmächtiges Werkzeug die Grofsindustiie mit
ihrem gewaltigen Maschinenbetrieb und dessen vielerlei Folgen.
Zur Zeit allerdings herrscht eine wahre Vernunftfinster-
nis. Wir sind dahin gelangt, dafs wir die widersinnigsten
Dinge als vernünftig und die vernünftigsten als Wahnwitz
ansehen. Ich habe zum Beispiel Gelegenheit, immer wieder
folgendes Begebnis zu beobachten. Ich habe das Glück ge-
habt, mir selber ein Haus bauen zu dürfen; dieses einfache
Haus erweckt, wenn Leichenzüge daran vorüberkommen,
jedesmal unter den Leidtragenden eine plötzliche und un-
widerstehliche Heiterkeit. Und doch unterscheidet es sich
von denen, die daneben stehen, lediglich dadurch, dafs es
sehr bescheiden, nur durchaus logisch gebaut ist und nicht
den geringsten Schmuck aufweist. Ein anderes dahinter mit
phantastischen Masken und einem angehackten und völlig
unnützen hohen Turm erscheint als das vernunftgemäfse Haus
und meins als das wahnwitzige.
Ich könnte dasselbe von unsrer Frauenkleidung behaup-
ten; was ich zu Hause gewohnt bin, dem gegenüberstellen,
was ich auf der Strafse und in Gesellschaft sehe, und den-
selben Vergleich auf unser ganzes geistiges und moralisches
Leben ausdehnen.
Doch hier kommt
es mir nur auf Haus-
gerät an und auf die
Feststellung, dafs die
Vernunft unter einem
Wust von archäologi-
schen Kenntnissen und
launischen Verrückt-
C 260 3