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heiten begraben liegt. Im übrigen wäre es
eine Herkulesarbeit, diesen Schutthaufen
wegzuräumen und dem auf die Spur zu
kommen, was so lange schon dort unten
ruht; und wenn es gelänge, so würde die
Vernunft, die aus diesem Moder ans Licht
emporstiege, wohl so altersschwach sein,
dafs es unendlich besser ist, von Anfang an
eine neue Vernunft sich zu schaffen, die
nichts von alten Dingen weifs oder richtiger
wissen will. Wer so handelt, ist gewifs ein
moderner Mensch; ob auch ein Künstler,
das mögen andere entscheiden.

Dieses Bestreben scheint so ausgedrückt
zuerst recht wesenlos und gewöhnlich und kaum dazu an-
gethan bemerkenswerte Folgen zu zeitigen; wenn aber wie
heute ein anderes Bestreben obgesiegt hat, dann wird es
ebenso fruchtbar wie ungewöhnlich.

Ich stelle zwei Ausgangspunkte einander entgegen: den
unsrigen, als welchen ich das Streben nach einem logischen
und vernunftgemäfsen Werk ansehe; den andern: als welchen
mir das Streben nach einem „schönen" Werk erscheint.

Diese Ausgangspunkte sind in ihrem Wesen selbst von
einander verschieden und ebenso verschieden sind daher die
Resultate; nur vertauschen die beiden Richtungen unterwegs
sozusagen mit einander ihre Ziele. Wer zu Anfang nur ein
in allen Einzelheiten nützliches Ding scharfen wollte, gelangt
zur reinen Schönheit; wer dagegen rücksichtslos nach
Schönheit strebte erreicht nicht sie, sondern das andere Ziel:
nämlich die Nützlichkeit, und bringt es auch in der nur bis
zu mittelmäfsigen Leistungen. Von diesen Endpunkten aus
blicken nun die Gegner einander an und können den Abstand
messen, der den Stil des XIX. Jahrhunderts von dem des
kommenden trennt. Denn die Geschichte wird gewifs unsre
Arbeit zusammenfassen und sie dem künftigen Jahrhundert
zugutehalten; diese Arbeiten der Maschinenbauer, Techniker,
Handwerker sind in der That nur Vorläufer; das Entstehungs-
datum des neuen Stils wird erst der Augenblick sein, in dem
sein Dasein uns bewufst -wird.

Was nun das Mobiliar anlangt, so wird der Unter-
schied in folgendem bestehen: man wird ein einheitliches
Stück einem komplizierten, ein einheitliches Zimmer einem
ungeordneten und zusammenhanglosen vorziehen und er-
kennen, dafs jedes Zimmer einen Haupt- und Knotenpunkt
hat, von dem sein Leben ausstrahlt und dem sich alle anderen
Gegenstände darinnen angliedern und unterordnen müssen.
Diesem neuentdeckten Skelett des Zimmers gemäfs wird man
die verschiedenen Einrichtungsstücke anordnen, die man
fortan als lebendige Organe des Zimmers und der Wohnung
empfinden wird.

Wird nun auch dieses Bestreben ohne weiteres sichtbar
werden, so wird doch der Höhepunkt an Ebenmafs und
geistiger Klarheit erst ermöglicht werden durch die Ent-
deckung des ästhetischen Werts, der neben den positiven
auch den negativen Umrissen der Gegenstände zukommt,
vielleicht die wertvollste von unseren Entdeckungen; ich
meine die Erkenntnis, dafs ein Möbel, dafs jeder Gegenstand,
aufser der eigenen Silhouette, die er auf die Wand, in die
Luft, kurz auf jeden Hintergrund zeichnet, zugleich auch in
diesem Hintergrund eine der seinigen sich genau anschmie-

gende, umgekehrte Form ausschneidet und dafs
diese negative Form ebenso wichtig ist, wie
die des Gegenstandes selbst und ein sicheres
Urteil über die Schönheit des Dinges ermöglicht.
In einer ausschliefslich dem Kunstgewerbe
gewidmeten Zeitschrift müfste diese Bemerkung
durch Zeichnungen belegt werden. Hier genügt
es, auf das wirkliche Vorhandensein dieser mit
dem Gegenstande zusammen ihren Platz ver-
ändernden Formen hinzuweisen; denn schon
diese Andeutung wird klar machen, wie wichtig
diese Formen sind und wie unerläfslich es ist,
dafs sie ebenso einfach und ebenso schön ge-
halten werden, wie der Gegenstand selbst.
Zwischen den körperlichen und den sich an-
schmiegenden sozusagen unkörperlichen Formen darf ebenso
wenig ein Widerspruch bestehen wie zwischen dem Menschen
und der Chimära, die ein Jeder nach Heine auf dem Rücken
trägt; und in der That ist auch ein solcher Widerspruch nur
dann möglich, wenn die Gegenstände mifsraten und häfslich
sind. Eine künstlerisch vollkommene Linie als Grenzlinie
zwischen zwei Flächen schafft nach beiden Seiten künstlerisch
vollendete Formen. Betrachtet man z. B. von den Umrissen
eines Möbels die zwei Linien, die es rechts und links
begrenzen, so hat man zwischen diesen beiden Grenzlinien
das körperliche Möbel; aufserhalb der Grenzlinien dagegen
je eine auf der Wand abgezeichnete Komplementärform, eine
unkörperliche Form, die sich mehr oder weniger weit vom
Möbel weg ausdehnt. Ein geübtes und empfindliches Auge
geniefst beide, die körperliche und die unkörperliche Form,
gleich intensiv und summiert sie zu etwas, an dem es ganz
neue Empfindungen erlebt. Diese Empfindungen gleichen
der Begleitung beim Gesänge und steigern den Genufs des
Auges ebensosehr wie die Polyphonie den Genufs des Ohrs.

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