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starken Tönen durchgeführt ist, wird sich dann die Ruhe
der horizontalen Linien erhöhen. Der Neo-Impressionist
kann diese mannigfachen Kombinationen unendlich variieren,
um sie sinngemäfs dem Gegenstande anzupassen: so dafs sich
Farbe und Linie der Empfindung unterordnen, die ihn be-
wegt und die er wiedergeben will; sein Schaffen gleicht
dem des Dichters.

Wie man sieht, bedeutet diese „Farbenzerlegung" ein
ganzes System entwickelster Harmonik und darf nicht mit
der fragwürdigen Art von Künstlern verwechselt werden,
die eine Leinwand mit regelmäfsigen kleinen Punkten be-
tupfen, ohne sich um Kontrast- oder Gleichgewichtsfragen
zu kümmern.

Der Neo-Impressionist zerlegt die Farben, ist aber kein
„Pointillist", denn die „Farbenzerlegung" verlangt durchaus
keinen punktförmigen Farbenauftrag, sie bedeutet nur die
Anwendung von reinen ungemischten Farben, die so auf-
getragen werden, dafs sie in ein richtiges Gleichgewicht zu
einander treten und beim rechten Abstand zusammenfliefsen.

Der Neo-Impressionist erstrebt Kraft und Harmonie, in-
dem er das farbige Licht in seinen Grundelementen wieder-
giebt und indem er die Mischung sich zu Nutze macht, die
diese nach den Grundgesetzen des Kontrastes und der Ab-
schwächung getrennten und wieder ins Gleichgewicht ge-
brachten, reinen Elemente auf der Netzhaut des Auges
eingehen.

Diese Scheidung der Elemente und ihre optische
Mischung verbürgen die Reinheit, d. h. die Leuchtkraft und
die Intensität der Nuancen; die Abstufung steigert ihren
Glanz und der Kontrast unterstellt beide — Leuchtkraft und
Glanz — den Gesetzen der Harmonie, indem er verwandte
Töne zusammenklingen läfst und konträre zu einander in
Beziehung setzt. Die Basis der Farbenzerlegung ist der
Kontrast. Der Kontrast aber — ist er nicht die Kunst?

Der Maler, der die Farbe „zerlegt", unterzieht sich nicht
der langweiligen Aufgabe seine Leinwand mit vielfarbigen
Pünktchen zu betupfen. Er geht vom Kontrast zweier Töne
aus — er stellt auf jeder Seite der Grenzlinie seine einzelnen
Elemente einander gegenüber und gleicht sie aus — bis ihm
ein anderer Kontrast zum Motiv einer neuen Kombination
wird. Und in dieser Weise füllt sich seine Leinwand, ohne
dafs er auch nur eine Minute lang nur mechanisch gearbeitet
hätte. Er spielt mit den sieben Farben des Prismas wie der
Komponist bei der Orchestrierung einer Symphonie die sieben
Noten der Tonleiter handhabt.

Die Zerlegung ist eins von den Resultaten, nicht aber
das Mittel seiner Arbeit.

Der Neo-Impressionismus ist eine Phase der koloristischen
Bewegung, des grofsen Zuges nach immer stärkerer Leucht-
kraft und nach immer zwingenderer Farbengebung. Delacroix
begann, die Impressionisten Renoir, Monet, Pissarro u. a.
arbeiteten weiter. Alle verfolgen dasselbe Ziel; von einer
Generation aber zur anderen verbessern sich die Mittel, ver-
mehren sich die Hilfsquellen durch die Arbeit der Vorläufer
und der Erfolg tritt immer klarer zu Tage.

Beim Studium von Delacroix erkennt man seinen steten
Drang, der Farbe immer gröfsere Intensität und immer helleren
Glanz zu geben. Es ist ein weiter Weg vom „Massacre de
Scio" bis zu den Fresken von St. Sulpice! In seinen letzten
Arbeiten hat er, Dank seiner Kenntnis der Harmonik und

Dank der Anwendung einer Technik, die von der Mischung
im Auge ausging, der überladenen romantischen Palette, die
den reinen Farben vor den schmutzigen und trüben keinen
Vorzug gab, alles, was sie bei dieser ihrer Beschaffenheit
geben konnte, entlockt. Zwanzig Jahre später sicherten sich
die Impressionisten neue Mittel, indem sie alle stumpfen
Farben aufgaben und nur die behielten, die den Nuancen
des Prismas am nächsten kommen. Leider aber dämpften sie
noch ihre Reinheit durch Mischung auf Palette oder Lein-
wand und brachten sich so um den Vorteil, den ihnen diese
Vereinfachung verschafft hatte. Diese ganze Entwickelung
zu Licht und Farbe setzte sich dann in den Neo-Impressionisten
fort, die wie die Impressionisten nur völlig reine Farben auf
ihre Palette nehmen, aber aufserdem noch jede Mischung auf
der Palette sowohl wie auf der Leinwand vermeiden.

Die Beobachtung der Gesetze der Kontrastwirkung, der
Farbenabschwächung und der Strahlung und die strenge
Berücksichtigung des Moments der Mischung im Auge,
zwang die Neo-Impressionisten ganz von selbst zu einer
neuen Methode, denn nur der prismatisch „zerlegte Farben-
fleck" macht das Gleichgewicht der Grundelemente, das
zu Harmonie führt und zu jener Reinheit, die den Glanz ver-
bürgt, möglich. Dieser „prismatisch zerlegte Farbenfleck"
aber ist nur eins der zahllosen Farbelemente, die zusammen
das Bild ausmachen. Jeder einzelne hat die gleiche Bedeutung
wie eine Note in einer Symphonie. Er soll nicht einen
Gegenstand nachahmen oder eine Empfindung ausdrücken.
Trübe oder heitere Momente, Ruhe oder Bewegung können
durch keinen noch so virtuosen Pinselstrich gegeben werden,
sondern nur durch die Kombination der Töne und der
Nuancen und durch entsprechende Linienführung. Warum
soll nun diese Malweise störender sein, als das konventionelle
Verfahren anderer Künstler, zumal es sich doch um ganz das
gleiche Ziel handelt: die stärkste Wirkung zu erreichen?

Man habe keine „Pünktchen" auf dem Gesicht, sagt
man! Gut! Aber hat man etwa schwarze, graue, braune
Schraffierungen oder Kommata? Ribots Schwarz, Whistlers
Grau, Carrieres Braun, die Schraffierung Delacroix', das
Komma Monets sind, genau wie die prismatisch zerlegten
Farbenflecke der Neo-Impressionisten, Kunstmittel, deren sich
diese Maler bedienen, um eben ihre besondere Art, die Natur
zu sehen, auszudrücken — alles analoge Verfahren, die man
zulassen mufs, da der betreffende Künstler darin nun einmal
das beste Mittel findet, dem, was ihm vorschwebt, Gestalt
zu geben.

Was die Neo-Impressionisten wollen und was ihre
Methode ihnen sichert, ist: höchste Steigerung von Licht,
Farbe und Harmonie. Dadurch eignet sich ihre Technik
ganz besonders für dekorative Malerei. Selbst ihre kleinsten
Arbeiten sind deshalb keine Staffeleibilder, sondern eine Art
dekorativer Kunst, der Kleinheit der modernen Wohnräume
angepafst. In der durch die Gröfse eines Bildes bedingten
Entfernung verschwinden — falls in gutem Verhältnis
gegeben — die einzelnen Flecke und verfliefsen zu farbigen
Lichtern von unvergleichlichem Glanz. Sie verlieren sich
übrigens mit der Zeit so wie so ganz von selbst: im Verlauf
von einigen Jahren schon verziehen sich die Farben ineinander
und ein Bild wird dann nur zu leicht flach und eintönig.

Wenn der einzelne Farbfleck stört, so liegt das nur daran,
dafs man nicht den notwendigen Abstand berücksichtigt.

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