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SCHLAFLIED FUER MIRJAM

Schlaf mein Kind — schlaf es ist spät!

Sieh, wie die Sonne zur Ruhe dort geht,

Hinter den Bergen stirbt sie im Rot.

Du — du weifst nichts von Sonne und Tod,

Wendest die Augen zum Licht und zum Schein;

Schlaf, — es sind so viel Sonnen noch dein,

Schlaf mein Kind, — mein Kind schlaf ein!

Schlaf mein Kind — der Abendwind weht;
Weifs man woher er kommt, wohin er geht?
Dunkel, verborgen die Wege hier sind,
Dir, und auch mir, und uns Allen, mein Kind!
Blinde — so gehn wir, und gehen allein,
Keiner kann Keinem Gefährte hier sein, —
Schlaf mein Kind, — mein Kind schlaf ein!

Schlaf mein Kind — und horch nicht auf mich!
Sinn hat's für mich nur, und Schall ist's für dich;
Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn,
Worte — vielleicht eines Lebens Gewinn!
Was ich gewonnen gräbt mit mir man ein,
Keiner kann Keinem ein Erbe hier sein —
Schlaf mein Kind, — mein Kind schlaf ein!

Schläfst du Mirjam? — Mirjam, mein Kind,

Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt

Blut von Gewesnen, — zu Kommenden rollt's,

Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz.

In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein?

Du bist ihr Leben, — ihr Leben ist dein, —

Mirjam, mein Leben, — mein Kind, schlaf ein!

Richard Beer-Hofmann

C 88 D
 
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