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entfesselte. Doch seine grandiosen Bilder vom Todeszucken
einer alten und vom siegreichen Erwachen einer neuen Welt
tragen den Stempel künstlerischer und gedanklicher Abgeklärt-
heit. Der Schwerpunkt, um den alles gravitiert, ist gefunden.
Rydberg ersetzt das Untergegangene durch den erprobten
idealen Gehalt des gleichfalls schon Bestehenden. Er rechnet
mit gegebenen Gröfsen und hält an einem ganz bestimmten
religiösen Ideal fest. Die „Jungen" kennen nur die eine
Gröfse und sie hat für sie keinen Wert mehr, sie ist das
Alte, das Ueberlebte, das umgestürzt werden mufs. Sie werfen
die gebräuchlichen Stützen und Krücken weg und wandern
stab- und führerlos der uralten Sphinx entgegen, um deren
Rätsel zu lösen sie, einem ungestümen Impuls gehorchend,
mutig ihr Herzblut opfern wollen.

Denn die jungen schwedischen Dichter schreiben mit dem
Herzblut. Was bei so vielen romanischen „Modernen" fin
de siecle heifst: der klägliche Zusammenbruch einer morschen
Welt, aus dem sich einige Elitegeister in die egoistische Ein-
samkeit flüchten, um wie Maurice Barres oder Gabriele
d' Annunzio ihr Ich zu kultivieren und durch halsbrecheri-
sche Ideengymnastik und krankhafte Empfindungskünstelei
sich selbst zu analysieren und zu beräuchern — das ist für sie
schon die frische, von dumpfem Schlaf befreiende Morgen-
röte einer neuen Zeit. Mutig verbrennen sie die Schiffe hinter
sich und steuern mit der Abenteuerlust der alten Wikinger
ins Ungewisse — sie wollen entweder zu Grunde gehen oder
sich ein gelobtes Land erobern. Nur wenige von der maladie
du siecle angekränkelte „Dilettanten" treten uns entgegen,
zumeist aber volle künstlerische Individualitäten, deren Cha-
rakter innig mit dem Charakter der eigenartigen Natur ihres
Landes verwandt ist. Ueberall schroffe Kontraste: Bald linde,
träumerische Weichheit, düsteres Sinnen, fast zur Melancholie
vertieft, bald festes, klares Denken, strenges Zügeln des Ge-
fühls, kraftvolle Energie, rasches, mutiges Aufraffen zurThat,
konsequentes Handeln — dann wieder plötzliches Entmutigt-
sein wechselnd mit rasch auflodernder Begeisterung, die nicht
als Strohfeuer verglimmt, sondern sich in Thaten umsetzt.
Es ist ein oft ganz elementares „Himmelhochjauchzend, zu
Tode betrübt" ohne vermittelnde Uebergänge. Hier begegnen
wir auch reichen, kraftvollen Temperamenten, die sich aus-
leben und ausgeben wollen, keinem anderen Führer gehor-
chend, als ihrem natürlichen Impuls, der sie zur Lebens-
freude oder zur instinktiven Erkenntnis des Leidens, der
Tragik im Menschenleben treibt. Lesen wir planlos eine
Reihe junger schwedischer Autoren, so ist es uns, als wür-
den eine Menge frisch sprudelnder Bergquelle erschlossen,
von denen der eine träumerisch zu einem grofsen, schweigen-
den Wasser fliefst, der andere sich toll und übermütig, wie
ein Waldkobold geberdet, ein dritter aber zum breiten, maje-
stätischen Strome anwächst, der auch verheeren und ver-
nichten kann.

Nicht durch die Brille althergebrachter Anschauungen,
von mannigfaltigen ganz neuen Gesichtspunkten aus sehen
wir unser Dasein und die Natur, der es sich oft pantheistisch
anschliefst, betrachtet. Jedes, auch das Kleinste ist nicht
ausgeklügelte Verstandessache, sondern innerstes Herzens-
erlebnis, immer gleich fesselnd, originell, ehrlich und auf-
richtig. Tolle Neuerer wollen in ihrer Neigung zu Extremen
mit einem Male alle Schranken durchbrechen. Doch die Ge-
fahr, die in solchem kecken Umsichschlagen des Individua-

lismus liegt, wird gemildert durch die innige Liebe des Ein-
zelnen zum Vaterlande, zur engeren Heimat, zur einsamen
Natur und durch den echt germanischen Hang zumTräumen.
Tief in den Schweden wurzeln ferner die Freude an kühnen,
heldenhaften Abenteuern, die Liebe zur Ursaga, mit ihren
halb naiven, halb barbarischen Vorstellungen, ihren elemen-
taren Leidenschaften, ihrer düstern Tragik und ihrem lyri-
schen Zauber — kurz starke, unausrottbare Reminiscenzen
aus dem Lande der blauen Blume.

Was von neuen Ideen auf den Boden solcher Dichter-
temperamente fiel, wurde gleichfalls nicht theoretisch mit
dem Verstände verarbeitet, sondern mit dem Herzen in Thaten
umgesetzt. Es zeitigte Früchte, die die Sonne des Enthusias-
mus nährte. Die Früchte aber, in denen der Wurm des Pessi-
mismus zerstörend frifst, sind als frühreif vom Baum gefallen
zu betrachten: der Baum selbst ist gesund. Obwohl nun Rea-
lismus, Naturalismus, Neu-Idealismus und phantastische Ro-
mantik lustig nebeneinander ihr Wesen treiben und es schwer
ist, „alles gehörig zu klassifizieren", ragen doch einige künst-
lerische Individualitäten als Vertreter ganz bestimmter Rich-
tungen hervor. Die oder jene minder Epoche machende
Persönlichkeit schliefst sich als Mitstreiter einem dieser Feld-
herren an.

Als vollständig roter Revolutionär zeigt sich August
Strindberg. Rücksichtslos bis zur Brutalität kämpft er un-
ermüdlich gegen die bestehende Gesellschaft. Das „rote
Zimmer" und die „zwölf Ehegeschichten" eröffneten den
Reigen und verdrängten andere Arbeiten, wie Meister Olaf
und die trefflichen Schilderungen aus dem schwedischen
Kultur- und Volksleben. Ola Hansson nennt ihn den aus-
geprägtesten Schweden, weil er die ganzen schroffen Kontraste,
die ganze Phantastik des schwedischen Temperaments vereint.
Noch zählt er unter seinen Landsleuten einige begeisterte
Anhänger. Dem echten Germanentum jedoch wird seine
Philosophie nichts anhaben können. Man weifs, zu welch
heftigen litterarischen Auseinandersetzungen jedes seiner
Werke auch bei uns in Deutschland Anlafs gab, besonders
seine bis zum Cynismus gehässigen Angriffe auf die Frau,
die er als „Ausbeuterin des Mannes" an den Pranger stellt.
— Das Verhältnis der Geschlechter zu einander ist überhaupt
ein Lieblingsthema der jungen nordischen Litteratur und
Strindberg ergreift fast allein gegen das Weib Partei.

Noch ehe die Norweger Ibsen richtig kannten und von
einer „Nora Helmer" wufsten, beginnt eine Schwedin, Frau
Charlotte Leffler-Edgren, den Kampf des weiblichen
Individuums gegen die Gesellschaft. Sie ist die Vorläuferin
jener Schar mutiger jugendlicher, aber auch vorzeitig ge-
alterter und pessimistischer Streiter, die mit wuchtigen Sturm-
böcken an alte Mauern rennen und, je nach ihren eigenen
triumphierenden oderqualvollenErfahrungen,Sieg oder Unter-
gang predigen. Für sie alle hat die heutige Welt einen Janus-
kopf. Einmal das alte Gesicht der alten Anschauungen, der
landläufigen Moral, der demütigen Unterwürfigkeit, des
beschränkten Unterthanenverstandes und vor allem der strengen
Religiosität, und dieses ist ein Heuchlergesicht. Nach den
Begriffen der Jungen sind jene „sogenannten Stützen der Ge-
sellschaft" raffinierte Heuchler, die unter dem Deckmantel
all solcher erbaulichen Dinge ihr Schäflein wohl zu scheeren

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