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einem Traumzustand, den die kleine Balleteuse natürlich nicht
versteht. Verdrossen über die Launenhaftigkeit ihres wunder-
lichen Liebhabers sinnt sie auf Possen und schmückt sich
eines Tages mit einem Kleide der Verstorbenen; lachend greift
sie dann auch nach deren goldenen Flechten, die Hugues wie
eine kostbare Reliquie aufbewahrt. Da plötzlich erwacht der
Traumwandler; sein Trugbild zerrinnt — er sieht nur die
lachende Dirne, die sein Heiligstes entweiht hat und erwürgt
sie mit den goldenen Haarsträhnen: Sie mufste sterben, weil
sie das Geheimnisvolle nicht geachtet hatte: „et qu'il y eut
une chose lä ä laquelle il ne fallait point toucher."
Und Brügge wird wieder zur toten Stadt. Alles was darin ge-
sungen und geklungen, schien nur die kurze Auferstehung
eines flüchtigen Morgens gewesen zu sein. Wieder waren die
Strafsen leer und die Stadt war von neuem allein.

Endlich „Le Voile", Versdrama in einem Akt, das die
Comedie francaise 1895 aufführte. Die gleiche Stimmung
leiser Schwermut klingt daraus hervor; es ist nur eine Kost
für fein empfindende Seelen: Da ist der träumerisch angelegte
Jüngling, der sein einförmiges Leben zwischen alten Leuten
und uraltem Gerät verbringt. Seine Tante erkrankt, und zu
ihrer Pflege erscheint eine „Be'guine", Schwester Gudula.
Das Geheimnisvolle in dem bleichen Gesicht der jungen
Nonne übt auf Jean einen seltsamen Zauber aus. Leise er-
wacht in seinem Herzen die Liebe, wunschlos und voll Ver-
ehrung. Dennoch steigt ein Wunsch in ihm empor und wird
zu glühendem Verlangen: nur einmal die Farbe des Haares
kennen zu lernen, das der dichte Schleier der Nonnenhaube
neidisch verbirgt. Er fafst sich endlich ein Herz und trägt
der Beguine sein Anliegen vor. „Ich weifs selbst nicht, wie
mein Haar aussieht", erwidert diese naiv. „Wenn ich mich
ankleide, ist es noch dunkel und erst zu später Nachtstunde
lege ich die Haube ab." Sie weigert sich, den Schleier zu
lüften. —Jean's Tante stirbt unerwartet; Schwester Gudula,
die an ihr Bett geeilt ist, hat in ihrer Bestürzung vergessen,
die Haube aufzusetzen und Jean erschaut, was er so heifs er-
sehnt. Nun ist sie ein Weib wie alle andern; sie ist's nicht
mehr, ruft ihm seine Enttäuschung zu und beim leisen Ver-

hallen der Glocken läfst er die Schwester ruhig ihres Weges
ziehen. Wehmütig erkennen wir in jenem Schleier der Nonne
das Symbol des Geheimnisvollen, das uns ewig reizt und
doch wertlos wird, sobald es sich enthüllt.

„Nun ist's vorbei, das grofse Scheiden kam,
Das lange Weilen in des Schattens Gründen.
Wie ist's so öd' um mich! Wie bin ich müde!
Die Glocke noch? ■— Dein Totgeläut beginne
Mit Trauertönen, die der Stunden Thränen!
Begiefse meine Toten! Zwei bewein' ich:
Die Schwester auch, weil ich sie endlich sah
Als Weib; weil von der feinen Linnenhülle
Der Nonnenhaube frei ich schauen durfte
Ihr volles Haar — nun kenn' ich seine Farbe!
Doch meine Lieb' die ein Geheimnis nährte
Stirbt, da der Schleier nun gelüftet ist.
Was ich geliebt, ist hin; sie ist's nicht mehr;
Ich seh' sie, wie sie ist; das holde Bild
Einsamer Träume find' ich nun nicht wieder.
Der Heiligenschein, der um das Haupt ihr schwebte,
Verblich. — So schwindet plötzlich alle Liebe,
Wenn sie zu wissend: ein Geheimnis braucht sie!"

Le Voile, S. 40.

Das ist das Werk Rodenbachs, das, obwohl es noch zu
vielen Hoffnungen berechtigt hätte, doch den Stempel gröfs-
ter Abgeschlossenheit und Eigenart besitzt. Ist er Dekadent?
Auch er gehört zu den lebensfeindlichen Dichtern und
Denkern, die dem „mal de vivre" einen so grofsen Raum in
ihren Werken lassen und die sich fern von der befreienden
That einem willensarmen Traumleben ergeben. Rodenbachs
stimmungsvolle Kunst beschreitet nicht immer den einzig
wahren Pfad zur Natur, sondern strebt weit öfter mit er-
künstelter Wortfülle nach der Gesuchtheit der Jüngsten.
Auch gerät er bisweilen in die grofse Gefahr, sich selbst nach-
zuahmen. Dennoch gebührt ihm in hohem Mafse das Ver-
dienst, in der neuen Dichterschule Frankreichs reine Poesie
und die Forderungen der Seele wieder zur Geltung gebracht
zu haben, auch hat er den Dichtern seines Heimatlandes reiche
poetische Quellen erschlossen.

A. Brunnemann

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