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gestorben und noch stand Alles, wie es zur Stunde
des Todes gewesen war: das Bettzeug ungeordnet
in den Alkoven und das Efsgeschirr auf dem Tisch.
Nur der Staub von sechs Jahren lag wie graues
Mehl auf den schrulligen Möbeln, und überall, um
die seidenen Vorhänge, an den seltsam ausgemalten
Wänden und den alten Kupferstichen dickes Spinn-
gewebe. Ich ging eine ganze Stunde wie ein ver-
wirrtes Kind in den stillen Zimmern umher, wo
eine alte Zeit noch zu leben schien, nahm hier
einen sarazenischen Dolch und dort einen der alt-
französischen Floretdegen zur Hand, stand dann
wieder an einem der Fenster und sah zwischen
den alten Tannen hinaus auf den strahlenden blauen
Genfer See, auf die grünen Hänge der Voirons
und auf das weifse Stachelband der Alpen: von
der spitzen Dent d'Oche bis zum herrlich breiten
Montblanc —

Bis dahin war ich nur neugierig und erstaunt
gewesen. Unruhig wurde ich erst, als ich nachher
den '„Anhang" des Frangois sah. Er war fortge-
rannt, um einen Zeugen zum Mietskontrakt zu
holen. Ich stand auf der heifsen Holzgallerie
hinter dem Hause, sah in den Wallgraben hinunter,
wo die Enten noch immer faul um den Brunnen
lagen, und verstand nicht, wie ein Mensch in dem
Keller wohnen konnte, während hier oben die
herrlichste Wohnung im Staub verkam. Da fiel
mir der Name Leontine ein, den die Schiffer ge-
sagt hatten. Zudem glaubte ich vorhin da unten
eine weibliche Stimme gehört zu haben. Das machte
mich neugierig. Ich kletterte über die halb verfaulte
Holztreppe in der Ecke hinunter. Unter der Holz-
gallerie war eine verschlossene Thür und eine Reihe
verstaubter und vergitterter Fenster. Während ich
langsam daran vorbei nach hinten ging und meinen
Schritt auf den spitzen Steinen hörte, schoben die
Enten mit halbzurückgewandten Köpfen vor mir
her, bis sie sich in der Ecke zusammendrängten und
kreischend auseinanderflatterten. Wie ich mich
nach ihnen umwandte, sah ich eine zweite halboffene
Thür. Ich lauschte einen Augenblick, hörte niemand
und ging hinein. Es war ein mulmiger Vorraum,
wo Hacken und anderes Gerät stand und alles nach
Gartenerde roch. Eine zweite Thüre schien nur
angelehnt. Ich zögerte einen Augenblick und
drückte sie leise auf. Ein verwühltes Bett stand
quer mitten im Zimmer. In einer Ecke lagen zer-
brochene Weinflaschen und Gläser. Ein grünsei-
denes Sofa hing schief mit einer Seite auf dem Boden.
In der hochstehenden Ecke lag herrlich weifs auf
der grünen Seide ein Kater und blinzelte mich an.

Hinter mir kam ein Geräusch. Ich fuhr herum,
sah eine Tapetenthür sich langsam öffnen und eine
Frauengestalt darin. Nur einen Augenblick: ein
wunderfeines aber blödes Gesicht, das braune Haar
verstaubt wie die Möbel und ungekämmt in einem
hohen filzigen Durcheinander, Daunen und Stroh-
fetzen darin. Der Rock des schwarzen Seidenkleides
mit grenzenlos zerrissenen gelben Spitzen hing un-
gebunden herunter. Die Füfse waren in grofse
Lumpenballen gewickelt. Sie sah mich an, lächelnd,
verlegen, grenzenlos neugierig, zog die Thür leise
wieder zu und war verschwunden. —

Einige Tage später zog ich ein. Ich dachte,
dafs sich eine Erklärung dieser verwahrlosten
Welt von selbst ergeben würde. Aber jeder
neue Morgen brachte mir neue Seltsamkeiten. Im
Adrefsbuch des Kantons fand ich den Francois als
Fischer eingeschrieben. Trotzdem sah ich weder
Fische noch Netze. Jeden Morgen um vier ging er
auf den See zur Entenjagd. Auch davon brachte er
nie eine Beute mit. In seinen Feldern wurde den
ganzen Tag gearbeitet, alles Mögliche gesät und
gepflanzt; aber nie etwas geerntet oder verkauft.
Alles blieb stehen, bis es überreif war und ver-
faulte. Wenn er schon früh gegen acht oder neun
von der Entenjagd zurückkam, zog er von einem
Wirtshaus zum andern, trank nie etwas anderes als
Waadtwein, davon aber Tag für Tag ungefähr
zehn Liter. Trotzdem war er nie eigentlich be-
trunken. Er setzte sich auch nie mit den andern
zusammen, sondern immer an einen Nebentisch, von
wo aus er jedes Gespräch so lange mit höhnischen
Witzen und unverblümten Anspielungen unterbrach,
bis der Wirt ihm sagte, es wäre nun Zeit, irgend-
wo anders hinzugehen. Nie blieb er über den
Abend draufsen. Mit dem Einbruch der Däm-
merung hörte ich ihn umher tappen, und überall
zuschliefsen. Und wenn er dann noch einige Zeit
mit mir auf der Holzgallerie stand und in seiner
drolligen Deutschradebrecherei — meist über latei-
nische Grammatik — sprach, kam von unten die
feine Stimme, sehnsüchtig und klagend. Er polterte
dann irgend eine grobe Antwort, ging aber folg-
sam hinunter.

Schliefslich wurden mir der Seltsamkeiten zu
viel und ich fing an, mich im Ort zu erkundigen.
So erfuhr ich die Geschichte des Francois, die mich
zu all der Thorheit verführte. Bis durch meine
Schuld zwei Menschenleben vernichtet waren.

Er stammte von armen Zimmersleuten. Aber
der Besitzer des Chäteau, ein verschrullter Jungge-
selle und zugleich sein Onkel, vernarrte sich in

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