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ADOLF HILDEBRAND, MUTTER MIT KINDERN, RELIEF

EINIGES UEBER DIE BEDEUTUNG VON GROESSENVORSTELLUNGEN

IN DER ARCHITEKTUR

VON

ADOLF HILDEBRAND

GAR Manchem werden, wenn er einmal Nachts beim
Laternenschein das Gras betrachtete, die einzelnen Halme
mit ihren langen Schlagschatten wie Bäume erschienen sein, so
dafs er in die sonst so einfache Wiese wie in einen geheimnis-
vollen Wald hineinschaute, in welchem die Käfer als grofse
Ungetüme hausen.

Dadurch, dafs ringsherum tiefe Dunkelheit herrscht, ist
das beleuchtete Gras die einzige Welt, es tritt in kein reales
Verhältnis zur übrigen Natur, das wirkliche Gröfsenmafs hört
auf zu sprechen und nun fängt nur die kleine Welt des Grases
an zu wirken und sie wird reich und reicher und zum hohen
Walde, nur wie aus der Ferne gesehen, oder als wären wir
selber zu ihrem Mafsstabe zusammengeschrumpft. Die Vor-
stellung der wirklichen Gröfse, der Mafsstab der Dinge wird
ausgeschaltet. Eine Art von Puppenwelt, in die wir versetzt
werden, es ist das Kästchen der neuen Melusine. Es hat diese
Welt einen geheimnisvollen, heimlichen Reiz. Wir wifsen,
dafs sie nicht unser ist, wir schauen jetzt hinein wie in einen
Traum, der im Wachen seine reale Bedeutung verliert und
doch einen Besitz in unserem Fantasieleben und in unserer
Vorstellungswelt ausmacht. Es ist die Welt der Heinzel-

männchen, der Märchen überhaupt. Diese Welt erlischt beim
Tageslicht. Der Eindruck des wirklichen Waldes vernichtet
diese Waldwelt des Grases, das Gras erhält wieder sein nor-
males Sein. Beides tritt wieder in seine reale Beziehung. Der
Gesichtspunkt aus dem wir Beides betrachten, ist dann der-
selbe, das Bewufstsein der realen Aufsenwelt.

So schliefsen sich also diese zwei Welten eigentlich aus
und führen ihr getrenntes Dasein, wie das Wachen und
Träumen. Es giebt eine Poesie des wachen Zustandes, in der
die reale Ordnung der Dinge festgehalten wird und eine des
Traumes, die diese Ordnung ignoriert. Es giebt aber auch
eine Vermischung der beiden Welten und es liegt in ihr ein
fantastischer Reiz, der die sogenannte Romantik charakte-
risirt. Durch die Vermischung entsteht eine Art Gleich-
wertigkeit der beiden Vorstellungswelten. Beide prägen sich
als gleich real oder als gleich unreal ein, wir verlieren die
Grenzen der beiden Welten und verlieren uns selber in einem
Halbdunkel, die Register unseres Bewufstseins gehen durch-
einander.

Ganz analoge Verschiebung des Mafsstabs und damit der
Vorstellungen kommt auch bei der architektonischen Gestal-

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