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Einheitlichkeit und Ruhe. Denn infolge dieses freiwilligen
Verzichts, dieses beinahe ängstlichen Vermeidens von Allem,
was an Anekdote erinnert, wird die Aufmerksamkeit nirgends
abgelenkt und die Wirkung des Bildes spricht unmittelbar
zur Seele, ergreifend und packend im Dramatischen, zart und
süfs in der Hingebung, kraftvoll und begehrlich in der Liebe,
aber stets vornehm und menschlich wohlthuend.

"Wiederholen wir noch einmal: wenn er verwischt, wenn
er verhüllt, was ihm nicht wesentlich erscheint, so geschieht
es, um die Seele zu ergreifen. Er schaltet daher Alles aus,
was das Interesse von der Hauptsache ablenken könnte.
Zeichnung, Licht und Farbe wetteifern in dieser Hinsicht
miteinander, sie sind jedoch unauflöslich verbunden und zei-
tigen so eine gemeinsame Blüte.

Endlich der Kolorist! Haben wir dabei die Harmonie
allerBeziehungen überhaupt, und nicht das blofseDurcheinander
von Farben oder nur den Grad ihrer Stärke im Auge, so macht
die Verbindung aller angeschlagenen Accorde durch ein Netz
von undefinierbaren Nuancen in irgend einer Tonart, gleich-
viel ob hell oder dunkel, den Koloristen aus. Und in diesem
Sinne, welch bewundernswerter Kolorist in dunklen Tönen
ist Carriere! Welche Fülle geistreicher Tonwerte, genauer
Valeurs innerhalb gröfster Gegensätze, welche Feinheit im
Auffinden der Uebergänge — und Alles so richtig und
selbstverständlich, dafs man unmöglich irgend etwas weg-
nehmen könnte, ohne sofort den Reiz des Ganzen zu ge-
fährden! Die Harmonie ist sofort dahin, Alles wird
armselig und verkehrt, sobald eine unvollkommene photo-
graphische Reproduktion den Eindruck wiederzugeben ver-
sucht. Alle die mannigfachen Schwingungen aber, unter
sich zur Einheit verbunden durch ein alle umschleierndes
abgedämpftes Licht, erzeugen jenen rätselhaften geheimen

Glanz, der alle Arbeiten Carrieres kennzeichnet, und der so gut
zu den geheimen Neigungen einer Seele pafst, die nach innerer
Sammlung Sehnsucht trägt. Und doch wirkt Alles zusammen
wieder wie eine grofse Symphonie, die uns in unfafsbarer
Weise ergreift.

Schliefslich aber, bei all seiner so aufserordentlich per-
sönlichen Eigenart — hinter ihr und durch sie hindurch läfst
auch Carrieres Kunst immer doch die unwandelbaren Gesetze
erkennen, welche die früheren Werke anerkannter Meister uns
verkünden: feste Gesetze, die sozusagen eine innere Verwandt-
schaft herstellen zwischen allen unvergänglichen Werken.

Es wäre verlockend, dieses Thema weiterzuspinnen: es
böte gerade für unsere Epoche so rascher Entwicklungen aufser-
ordentliches Interesse, aber d as würde die Grenzen der vorliegen-
den Aufgabe erheblich überschreiten. Es galt zunächst nur, die
grofsen Linien zu zeigen, welche das Werk eines Künstlers cha-
rakterisieren, der sich zu so eigenartiger Selbständigkeit und
Höhe erhoben hat: ein bevorzugter Geist, begabt mit einer
aufserordentlichen Sensibilität, der es verstanden hat, sich
den Einflüssen eines bestimmten Milieus, einer bestimmten
Epoche anzupassen, der in diesem Rahmen die allgemein
menschlichen Empfindungen zu erfassen und ihnen einen so
charakteristischen Ausdruck zu verleihen weifs, dafs seine
Eigenart unsere höchste Bewunderung erregt. Ja, gerade
diese Besonderheiten seines Stils sind es, die uns zu der
reinsten Höhe erheben: losgelöst von den geschmacklosen
Fesseln des Kontur, ungehindert durch jede zu grobe Betonung
des farbigen Eindrucks, geniefstdie Phantasie in voller Freiheit,
aufserhalb des Bereichs einer schulgerechten Aesthetik, die
feinere Freude, sich selbst überlassen zu sein und sich hinaus-
zuheben über die Grenzen der Erscheinungen in die grenzen-
lose Welt des Traumes. Daniel Mordant

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