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Hercules Prodicius

zwischen „Virtus“ und „Voluptas“ vor Augen steht.1) Allein so ver-
lockend es war, das Londoner Bildchen einfach ,,Hercules am Scheide-
wege“ zu nennen und es gewissermaßen als ein Selbstbekenntnis des
jungen Raffael2) anzusprechen: es mußten sich doch recht starke Be-
denken gegen diese Lösung erheben. Daß die Begegnung mit der „Tu-
gend“ und der „Weltlust“ in allen antiken Schriftquellen als ein Erlebnis

des wachen Hercules geschildert wird,
während sie in Raffaels Gemälde als
eine Vision des träumenden sich dar-
stellen würde, ist freilich kein ent-
scheidender Gegengrund. Denn der
Übergang von der „Erscheinung“ zum
„Traum“ liegt für ein weniger mythi-
sches als allegorisierendes Denken so
nahe, daß schon Lukian sein offensicht-
lich der Herculesfabel nachgebildetes
Streitgespräch zwischen „Bildhauer-
kunst“ und „Bildung“ in einen Traum-
inhalt verwandeln konnte3); und die
Dichtung des Mittelalters vollends,
gleichviel ob ihre Gegenstände der an-
tiken Mythologie oder der christlichen
Moralphilosophie entnommen sind, hat
die „Traumerzählung“ geradezu zur
typischen Einkleidungsform des allego-
risch ausdeutbaren Wundererlebnisses
erhoben.4) Allein man mußte sich sagen, daß der italienischen Renais-
sancekunst der echt antike Typus des Hercules — heroisch-nackt, mit
Löwenfell und Keule — viel zu vertraut geworden war, als daß man an-

1) Von der reichen philologischen Literatur über die Prodikoserzählung ist am wich-
tigsten: Johannes Alpers, Hercules in Bivio, Diss. Göttingen 1912. Ferner seien genannt:
K. Joel, Der echte und der Xenophontische Sokrates 1893/1901, II, bes. S. i3off.; E. Nor-
den, Jahrbücher für klassische Philologie, Supplementbd. XVIII, 1892, S. 313; F. Riedl,
Der Sophist Prodicus und die Wanderung seines Hercules am Scheidewege durch die
römische und deutsche Literatur, Jahresbericht des K. K. ersten Staatsgymnasiums zu
Laibach, 1908; O. Hense, Die Synkrisis in der antiken Literatur, 1893. Auch zwei beinahe
verschollenen, in der modernen philologischen Literatur nicht mehr erwähnten Schriften
werden verschiedene nicht unwichtige Hinweise verdankt: Gotthelf August Cubaeus,
Xenophontis Hercules Prodicius et Silii Italici Scipio, Diss. Leipzig 1797, und Theodor.
Carol. Schmid, De Virtute Prodicia et Siliana, Jena 1812.

2) F. Piper, Mythologie der christlichen Kunst I, 1847, S. 426ff.

3) Lukian, Somnium, cap. 8—18.

4) Über die Beliebtheit der Traumerzählung im Mittelalter vgl. u. a. Louis Karl,
Un moraliste bourbonnais du 14. siede (Jean Dupin), 1912, passim; ferner Paul Lehmann,
 
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