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Hercules Prodicius

Warum sollte er nicht, auch innerhalb der Herculeserzählung, den
säuerlichen Hausdrachen, der das Wesen der Tugend durch Wasser-
krug und Spinnrocken ausdrückt, durch seine heroische Jungfrau er-
setzt haben ? Und warum sollte Hercules nicht unter einem Lorbeer-
bäume liegen ?

Gewiß, das alles wäre möglich. Aber die Lösung wäre befriedigender,
wenn diese antikisierende, und doch gerade in Hinsicht auf die Haupt-
figur nur bis zu einem gewissen Grade antikisierende Umformung
des nordischen Holzschnittes aus einer Änderung des Sinngehaltes
motiviert werden könnte, — wenn eine Schriftquelle nachweisbar wäre,
die einerseits mit dem Gegenstände des Holzschnitts, d. h. mit der
Herculesfabel, soviel Gemeinsames hätte, daß Raffaels Anschluß an das
nordische Vorbild begreiflich bliebe, andererseits aber auch diejenigen
Züge erklären würde, in denen er sich von diesem Vorbild entfernt*. Wir
glauben nun, daß eine solche Schriftquelle sich namhaft machen läßt, und
daß dasselbe Buch, das den Herculesholzschnitt enthält, den Weg zu
ihr zu zeigen vermochte: der Lochersche Text — antiker als die ihn be-
gleitenden Bilder — weist auf ein klassisches Dichtwerk zurück, das
dann in Raffaels Gemälde seine anschauliche Gestaltung finden sollte,
und eben dadurch dieses Gemälde über sein „gotisches“ Vorbild hinaus-
wachsen ließ.

II.

Wenn wir die Erzählung des Prodikos — den Platon den „besten
der Sophisten“ genannt hatx) — gewöhnlich unter der Bezeichnung „Her-
cules am Scheidewege“ zitieren, so ist das genau genommen nur für
eine recht späte und in der Literatur durchaus nicht allgemeingültig ge-
wordene Version dieser Erzählung zutreffend. In der bekanntlich durch
Xenophon auf uns gekommenen ältesten Fassung1 2) ist die Fiktion viel-
mehr eine wesentlich andere. Der jugendliche Hercules befindet sich
keineswegs an einem „Scheideweg“, sondern er hat sich, bedrängt von
Zweifeln über den einzuschlagenden „Lebenspfad“, an einen nicht näher
bezeichneten einsamen Ort begeben, an dem er niedersitzt und nachdenkt
(s^säTovtoc elq yjao^cav xatH/jcEa!.). Da erscheinen ihm zwei „große“, d. h.
als überirdische Gestalten erkennbare Frauen („sie schienen auf ihn zu-
zukommen“, heißt es im griechischen Text). Die eine, von allen Menschen
als ’ApsTT) anerkannt, ist wohlanständig, edel gestaltet, weiß gewandet;

1) Symposion 177 B.

2) Memorabilien II, 1, 21 ff. Wie Alpers nachweist, ist die Fabel von der Entscheidung
zwischen ’ApsxT) und Kaxia nur ein herausgelöstes Kapitel aus einer großen, im Stil des
Gorgias abgefaßten Lobrede, innerhalb derer sie von der Kindheit des Hercules zu seinen
Heldentaten überleitete.
 
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