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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0035
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Über den Wert der pathologischen Methode in der Psychologie usw. 31

doch so, daß hier etwas zurückbleibt, das der Alkohol nicht zer-
stören kann? Schaut nicht durch das Bild des sittlichen Zerfalls
immer noch jene feine ethische Persönlichkeit hindurch, die turm-
hoch über all die anderen Kollegen hinaus ragt, die ihn um seines
sittlichen Niederganges willen meiden? Nun hier hat ein Künstler-
auge gesehen und geschaffen. Aber sollte denn nicht das, was der
Künstler gesehen hat, vereinbar sein mit den Erfahrungen, die auch
der Kliniker machen könnte?

Alles das sind Fragen, die gestellt werden dürfen und an deren
Bearbeitung auch einmal herangetreten werden muß. Aber es sind
Fragen, die an der Grenze des Aufgabenbereichs der Psychiatrie
liegen oder darüber hinaus. Für die eigentlichen praktischen Fragen
der Psychiatrie scheiden sie aus. Und weil solche Fragen ausschei-
den, gerade deshalb bleibt jener greifbare Unterschied in der Ver-
ursachung der Krankheit, den wir oben herausgestellt haben, zu
Eecht bestehen; denn für die praktischen Aufgaben der Psychiatrie,
für die Erklärung der Entstehung von Krankheiten und eine darauf
zu gründende Therapie ist diese Unterscheidung allein brauchbar.

In demselben Sinne, in dem man da, wo psychische Störungen
nach einer Gehirnerschütterung auftreten, anstandslos das Gehirn,
da, wo sie wie bei der Schreckneurose nach einem Schreckaffekt
auftreten, diesen Schreckaffekt, also eine psychische Ursache für die
Krankheit verantwortlich machen wird und deshalb in dem einen
Fall von einer Hirnverletzung oder Hirnerkrankung, in dem anderen
Fall von einer psychischen Erkrankung reden darf, in demselben
Sinne sollte man fortan die gesamten Geistesstörungen als Hirn-
krankheiten und psychische Krankheiten auseinander halten.
Die herkömmliche Unterscheidung in organische und funktionelle
wird man aber, wie man das auch sonst schon gefordert hat, besser
fallen lassen. Freilich der Funktionsbegriff könnte auch in der Psy-
chiatrie verwendet werden, wenn man ihn in dem Sinne nehmen
würde, in dem er neuerdings in die Psychologie Eingang findet.
Dann würde funktionell in der Psychiatrie bedeuten, daß psychische
Krankheit nicht besteht in Störungen der Bewußtseinserlebnisse, der
real erlebten psychischen Vorgänge des Kranken, sondern daß ihr
Funktionsstörungen, Störungen der inneren Wahrnehmung, des Be-
wußtseins von den real erlebten psychischen Vorgängen zugrunde
 
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