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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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Erstes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0059
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Psychologie und Pathologie. 55

starker Inhaltsdefekt das seelische Leben abnormal gestaltet, wie
etwa in der Blindheit oder Taubheit, die ja doch auch keine psy-
chische Krankheit ist. Die Pathopsychologie wird, da sie sich eben
durchaus als Psychologie fühlen muß, keine Veranlassung haben, nur
den einen Übergang vom Normalen zum Abnormen herauszuheben,
der sich in der Richtung zum psychisch Krankhaften bewegt. Sie
wird vielmehr den gesamten Umkreis der abnormen psychischen Er-
scheinungen als Stoff behandeln und überall das Unnormale mit den
Hilfsmitteln der normalen Psychologie zu erklären versuchen. Sie
verwendet also ihre Kenntnis der Psychologie des Gedächtnisses, der
Aufmerksamkeit, der Gefühle, des Willens, um die Erscheinungen
der krankhaften Störungen aber ebenso die des Traumes und der
Hypnose und aller übrigen das seelische Gleichgewicht störenden
psychischen Prozesse zu untersuchen.

Hier schiebt sich nun leicht und häufig wieder ein anderer Be-
griff ein, der noch gar zu ungeprüft in die psychologische Literatur
eingegangen ist. Von vielen Seiten wird diese Bearbeitung der
psychischen Störungen mit den Erklärungshilfsmitteln der normalen
Psychologie als »Angewandte Psychologie« bezeichnet. Die normale
Psychologie der Aufmerksamkeit und der Assoziation wird »ange-
wandt«, um vielleicht die psychischen Vorgänge in der dementia
praecox zu erklären. Gegen eine solche Terminologie sollte aber
im Interesse reinlicher Begriffsscheidung Einspruch erhoben werden.
Wenn der Begriff der »angewandten Psychologie« wirklich fruchtbar
werden soll, so müßte er doch wohl unbedingt begrenzt werden auf
die praktischen Wissenschaften, in denen psychologische Kenntnis
benutzt wird, um gewisse Lebensziele zu erreichen. Der Pädagoge,
welcher Psychologie anwendet, um Knaben zu erziehen, der Jurist,
der sie anwendet, um verborgene Schuldgedanken ans Licht zu
bringen, der Gewerbetreibende, der sie anwendet, um Käufer anzu-
locken, der Künstler, der sie anwendet, um ästhetische Wirkungen
zu erzielen, sie alle benutzen das theoretische Wissen im Dienst
einer praktischen Aufgabe. Im Gebiet der Medizin würde entspre-
chend die Arbeit der Psychotherapie die psychologischen Kenntnisse
benutzen, um Krankheiten zu heilen. In allen diesen Fällen steht
die angewandte Wissenschaft der Psychologie gegenüber wie etwa
die technische Wissenschaft des Ingenieurs gegenüber der theoreti-
 
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