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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0095
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Über Selbsttäuschungen. 91

der Patient den Inhalt seines Lebens sehe und übersehe — so voll-
ständig und klar wie möglich. Was er dann damit tue, ist seine
Sache und nicht die des Arztes. Was in seinem Leben an Gehalt,
auch an Wertgehalt liegt, das ist durch keine Psychotherapie ver-
änderlich. Nur was, wie viel und wie es aufgenommen, erfaßt wird,
ist es.

Das therapeutische Ideal im zweiten Sinne ist um ein Erheb-
liches bescheidener als jenes des psychischen Chirurgen. Die soma-
tische Zurückhaltung ist ihm eigen im Unterschiede von kynischer
Vordringlichkeit in der Lebenslenkung fremder Menschen.

I. Zur Grundlegung der Lehre von den Selbsttäuschungen.

l.

Wesen der Täuschung im Unterschied vom Irrtum.

Nimmt man einen fertigen falschen Satz über einen Gegenstand,
so kann seine Falschheit eine zwiefache Quelle haben, die schon die
Volkssprache scheidet in »Irrtum« und »Täuschung«. Die Täuschung
hat hierbei immer im unmittelbaren Erkennen, der Irrtum im mittel-
baren Erkennen, besonders im Schließen, seine eigentliche Sphäre.
Wenn ich auf Grund einer geschehenen Nässe auf dem Wege vor
meinem Hause urteile : »es hat geregnet« und ich finde hernach,
daß es weiter unten auf der Straße nicht naß ist, und endlich, daß
ein Spritzwagen hier gefahren ist, so ist das ein Irrtum. In der
gesehenen Nässe war mir nicht der Regen irgendwie gegeben; son-
dern ich zog den Schluß, daß es regnete, oder assoziierte die Vor-
stellung des Regens und brachte sie mit der Nässe in einen logischen
Zusammenhang. Es ist etwas ganz anderes, wenn ich im »Nebel-
kleid die Eiche zum aufgetürmten Riesen« vergrößert finde. Das ist
eine Täuschung. Oder wenn ich den Stab, der zur Hälfte im Wasser
liegt, gebrochen sehe. Auch das ist eine Täuschung.

In der Täuschung liegt zunächst ein bestimmter Inhalt, eben das,
was ich zu sehen, zu spüren, zu fühlen usw. meine. Es ist gleich-
gültig, ob ich dies und jenes darüber urteile. Urteile ich, so ergibt
sich ein Satz, der falsch ist; aber ich brauche gar kein Urteil zu
vollziehen. Aber in der Täuschung liegt abgesehen von diesem In-
 
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