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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0100
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I

96 Max Scheler

ist unumstößlich. Die Täuschung ist daher weit weniger individuell
als der Irrtum, weit weniger subjektiv als er. Ihr Mechanismus geht
unabhängig von jenem Ich seinen Gang, das sich bewußt tätig, über-
legend, urteilend verhält und seine Aufmerksamkeit willkürlich zu
verteilen weiß.

2.
Täuschung und innere Wahrnehmung.

Man kann den Begriff der Täuschung über psychische Vorgänge
nicht genauer bestimmen, ohne zuerst über die Art, in der psychische
Inhalte der Erkenntnis zugänglich werden, einiges ausgemacht zu
haben. Sehen wir auch hier ab von der gesamten Urteils- und
Schlußsphäre, in der ja nur der Irrtum, nicht die Täuschung ihren
Sitz hat, so können wir uns beschränken auf diejenigen Funktionen
und Akte, durch die uns das Material zugeht für die Denkakte, in
denen wir das unmittelbar gegebene Psychische zur Idee eines realen
psychischen Kausalzusammenhangs erweitern. Der Inbegriff dieser
Akte und Funktionen wird gemeinhin mit »innerer Wahrnehmung«,
»innerer Anschauung«, »innerer Beobachtung«, »Bemerken«, »Re-
flexion«, von einigen Philosophen auch geradezu als »innerer Sinn«
bezeichnet. Es ist selbstverständlich, daß diese Worte sehr ver-
schiedene Dinge bedeuten, und daß die ihnen entsprechenden Begriffe
einer genaueren Differenzierung bedürften.

Hüten wir uns, bevor wir an die folgenden Probleme:

1. Dasein einer besonderen »inneren Wahrnehmung«,

2. Scheidung derselben von der »äußeren Wahrnehmung«,

3. Evidenzart der inneren Wahrnehmung

herangehen, zunächst vor sehr gebräuchlichen Äquivokationen. Häufig
finden wir Selbstwahrnehmung, Selbstbeobachtung oder auch Selbst-
bewußtsein mit innerer Wahrnehmung gleichbedeutend gebraucht.
Offenbar ohne jedes Eecht. Denn soll das »Selbst« hier den Gegen-
stand der Wahrnehmung bedeuten, so dürfte man nur dann sagen,
daß eine inaere Wahrnehmung stets mit einer Selbstwahrnehmung
zusammenfiele, wenn es gar keine seelischen Tatbestände gäbe, die
ohne eine unmittelbar anschauliche Beziehung auf das Ich des Wahr-
nehmenden gegeben wären. Nun gibt es aber sowohl ichindifferente
Seelenvorgänge, d. h. solche, die ohne jede positive oder negative
 
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