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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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Zweites und drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0281
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Über Ressentiment und moralisches Werturteil. 277

Trauben. Rangen wir vergeblich um Liebe und Achtung eines
Menschen, so entdecken wir leicht immer neue negative Eigenschaften
an ihm; oder wir »beruhigen uns« und »trösten uns« damit, daß es
ja mit der Sache, auf die unser Streben ging, gar nicht »so viel
auf sich habe«, daß sie die Werte nicht besitze, oder nicht in dem
Maße, als wir meinten. Es handelt sich da zunächst nur um die
sprachlich formulierte Behauptung, daß irgend ein Ding, ein be-
stimmtes Warengut, oder ein Mensch oder ein Zustand, kurz das
erstrebte Konkretum den positiven Wert gar nicht besitze, durch
den unser Streben so stark bewegt schien, z. B. daß der Mensch,
um dessen Freundschaft es uns zu tun war, gar nicht so »ehrlich«
oder »tapfer« oder »klug« sei; daß die Trauben gar nicht so wohl-
schmeckend seien, da sie ja »sauer« seien. Dies ist indes noch keine
Wertefälschung, sondern nur eine andere Ansicht über die Eigen-
schaften der Sache, des Menschen usw., durch die sie uns bestimmte
Werte darbot. Die Werte des Wohlgeschmackes süßer Trauben, der
Klugheit, der Tapferkeit, der Ehrlichkeit erkennen wir dabei wie
vorher an. Der Fuchs sagt nicht »süß ist schlecht«, sondern die
Trauben seien »sauer«. Das Motiv für diese Herabziehung des uns
nicht Erreichbaren in der sprachlichen Behauptung kann hierbei nur
eine Simulation sein für die »Zuschauer«, deren Spott wir nicht noch
zu unserem Schaden dazu haben möchten; oder zunächst für sie —
so daß erst sekundär der Aussageinhalt auch unser Urteil modifiziert.
Aber schon in den einfachsten Fällen steckt doch ein tiefer liegendes
Motiv dahinter. In dieser Tendenz zur Detraktion des Tatbestandes,
löst sich die Spannung zwischen der Stärke des Begehrens und der
erlebten Ohnmacht; und die an sie geknüpfte Unlust sinkt dem
Grade nach. Unser Begehren oder seine Stärke erscheint uns selbst
•unmotiviert«, unberechtigt — wenn die Sache »gar nicht so wert-
voll war«; es wird hierdurch schwächer und dadurch auch seine
^Pannungsgröße zum Nichtkönnen; unser Lebens- und Machtgefühl
steigt wieder um einige Grade — wenn auch auf illusionärer Grund-
lage. Nicht nur eine Tendenz zu veränderter Aussage (für die
«äderen), sondern auch eine solche zu verändertem Urteil ergibt sich
a'so aus jener »Erfahrung«. Wer fühlte nicht hinter dem Lob der
Zufriedenheit«, der »Einfachheit«, der »Sparsamkeit« in der Sitten-
spnäre des Kleinbürgertums oder in Aussagen, wie: daß dieser »billige«
 
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