Über Ressentiment und moralisches Werturteil. 291
Je länger und eindringlicher ich über diese Frage nachsann, desto
klarer wurde mir, daß die Wurzel der christlichen Liebe von Ressen-
timent völlig frei ist — daß aber andererseits keine Idee leichter
durch vorhandenes Ressentiment für dessen Tendenzen zu verwenden
ist, um eine ihr entsprechende Wirklichkeit vorzutäuschen und dies
häufig so weit, daß auch das geschärfteste Auge nicht mehr zu ent-
scheiden vermag, ob echte Liebe vorliegt oder nur das Ressentiment
sich den Ausdruck der Liebe gewählt hat1.
Es gibt zwei grundverschiedene Arten, in denen sich der Starke
gegen den Schwachen, der Reiche gegen den Armen, überhaupt das
vollkommnere Leben gegen das unvollkommnere, zu ihm sich herab-
beugend und ihm helfend verhalten kann. Einmal jene Art, die
dabei zum inneren Ausgangspunkt und zur motivierenden Kraft ein
mächtiges Gefühl der eigenen Sicherheit, des Feststehens, des innersten
Gerettetseins und der unbesieglichen Fülle des eigenen Daseins und
Lebens hat, und aus allem dem zusammen das klare Bewußtsein,
abgeben zu können von dem eigenen Sein und Haben. Hier ist
Liebe, ist Opfern, Helfen, sich Herabbeugen zum Kleineren und
Schwächeren ein freies Überfließen der Kräfte, begleitet von Selig-
keit und innerster Ruhe. Gegenüber dieser natürlichen Liebes- und
Opferbereitschaft ist aller spezifische >Egoismus«, das Hinsehen auf
sich, sein Interesse, ist auch der eigentliche Trieb der »Selbsterhal-
tung« bereits ein Anzeichen des gehemmten, geschwächten Lebens.
Leben ist wesentlich Entfaltung, Entwicklung, Wachstum an Fülle
— also nicht, wie eine falsche Lehre lautet, »Selbsterhaltung« — so
daß alle Entwicklungs-, Entfaltungs-, Wachstumserscheinungen nur
Epiphänomene zu bloßen Kräften der Erhaltung wären und auf
Erhaltung des besser Angepaßten zurückzuführen. Es gibt nach
unserer Ansicht auch ein Opfer des Lebens selbst für noch höhere
1 Eine von Ressentiment getriebene Persönlichkeit ist z. B. der Kirchenvater
Tertullian, von dem auch Fr. Nietzsche eine Stelle anfuhrt, in der er die
Seligkeit der Seelen im Himmel speziell darauf aufbaut, daß sie die Qualen der
Verdammten erblicken. Aber auch sein berühmtes: »Credo, quia absurdum,
credo quia ineptum« und seine gesamte maßlose Haltung gegen die antike Kultur
und Religion zeigt, wie er die christlichen Werte nur benutzt, um seine Gehässig-
keit gegen die antiken Werte zu befriedigen. Eine vorzügliche Schilderung des
Werdens eines Ressentimentchristentums gibt auch F. A. Meyer in seiner Novelle
der »Heilige«.
Je länger und eindringlicher ich über diese Frage nachsann, desto
klarer wurde mir, daß die Wurzel der christlichen Liebe von Ressen-
timent völlig frei ist — daß aber andererseits keine Idee leichter
durch vorhandenes Ressentiment für dessen Tendenzen zu verwenden
ist, um eine ihr entsprechende Wirklichkeit vorzutäuschen und dies
häufig so weit, daß auch das geschärfteste Auge nicht mehr zu ent-
scheiden vermag, ob echte Liebe vorliegt oder nur das Ressentiment
sich den Ausdruck der Liebe gewählt hat1.
Es gibt zwei grundverschiedene Arten, in denen sich der Starke
gegen den Schwachen, der Reiche gegen den Armen, überhaupt das
vollkommnere Leben gegen das unvollkommnere, zu ihm sich herab-
beugend und ihm helfend verhalten kann. Einmal jene Art, die
dabei zum inneren Ausgangspunkt und zur motivierenden Kraft ein
mächtiges Gefühl der eigenen Sicherheit, des Feststehens, des innersten
Gerettetseins und der unbesieglichen Fülle des eigenen Daseins und
Lebens hat, und aus allem dem zusammen das klare Bewußtsein,
abgeben zu können von dem eigenen Sein und Haben. Hier ist
Liebe, ist Opfern, Helfen, sich Herabbeugen zum Kleineren und
Schwächeren ein freies Überfließen der Kräfte, begleitet von Selig-
keit und innerster Ruhe. Gegenüber dieser natürlichen Liebes- und
Opferbereitschaft ist aller spezifische >Egoismus«, das Hinsehen auf
sich, sein Interesse, ist auch der eigentliche Trieb der »Selbsterhal-
tung« bereits ein Anzeichen des gehemmten, geschwächten Lebens.
Leben ist wesentlich Entfaltung, Entwicklung, Wachstum an Fülle
— also nicht, wie eine falsche Lehre lautet, »Selbsterhaltung« — so
daß alle Entwicklungs-, Entfaltungs-, Wachstumserscheinungen nur
Epiphänomene zu bloßen Kräften der Erhaltung wären und auf
Erhaltung des besser Angepaßten zurückzuführen. Es gibt nach
unserer Ansicht auch ein Opfer des Lebens selbst für noch höhere
1 Eine von Ressentiment getriebene Persönlichkeit ist z. B. der Kirchenvater
Tertullian, von dem auch Fr. Nietzsche eine Stelle anfuhrt, in der er die
Seligkeit der Seelen im Himmel speziell darauf aufbaut, daß sie die Qualen der
Verdammten erblicken. Aber auch sein berühmtes: »Credo, quia absurdum,
credo quia ineptum« und seine gesamte maßlose Haltung gegen die antike Kultur
und Religion zeigt, wie er die christlichen Werte nur benutzt, um seine Gehässig-
keit gegen die antiken Werte zu befriedigen. Eine vorzügliche Schilderung des
Werdens eines Ressentimentchristentums gibt auch F. A. Meyer in seiner Novelle
der »Heilige«.