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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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Zweites und drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0549
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Stottern als assoziative Aphasie. 545

Die »Anstrengung« hat unzählige, prinzipiell jedoch nicht
im geringsten verschiedene Variationen. Am reinsten tritt
die Zugehörigkeit der ungehörigen Innervation zu einem besonderen
Vorstellungskomplex natürlich dann hervor, wenn das Bedürfnis, einer
vorausgesehenen Schwierigkeit zu begegnen, Hilfsbewegungen der
nicht sprachlichen Muskulatur, oder auch der am Vorgang
der Buchstabenaussprache nur indirekt beteiligten Sprech-
muskulatur schafft. Die vom Stotterer ausgebildete Kunst be-
steht darin, diese Bewegungen als Reize gerade in dem Augenblicke
wirksam zu machen, in welchem der Zustand der Erwartung umge-
stoßen werden und ein Normalsprechen für die Dauer einer Silbe
oder eines oder mehrerer Worte deshalb erreicht werden soll, weil
der Gedanke, daß man Schwierigkeiten haben werde, eine Erfüllung
gefunden und so ein gewisses propulsierendes, »leider« nur kurz-
dauerndes Lust- bzw. Entspannungsgefühl geschaffen hat.

Das Gefühl des Entbehrens, des Beeinträchtigtseins beeinflußt die
Vorstellungen vom sprachlichen Können des Stotterers sehr bald in
der typischen Form des Pessimismus, der »nur die eine Seite sieht«,
und die Vorstellungskraft der Phantasie schafft mit der ganzen sub-
jektiven Ungehemmtheit, der eine pathologische bzw. eine soziale
Grenze nicht imponiert, die Frage, deren Grundzug die Ähnlichkeits-
assoziation ist: »kann ich wohl auch bei noch anderen Buchstaben
stottern?« Kurz zuvor ist die Zeit des »Hervortretens des konso-
nantischen Elementes«; der Sprechende spricht schon vorbereitend
mit einer allgemeinen Anstrengung, die ein generelles Verblassen der
auditiv-begrifflichen und ein zunehmendes entsprechendes Hervor-
treten der motorisch-taktilen Kontrolle verrät — d. h. immer dann,
wenn, wie namentlich vor fremden Leuten und ähnlich, der Wunsch
auftritt, es nicht zu einer Störung kommen zu lassen.

Natürlich können »Anstrengungen« nicht-nur im Apparat der
unmittelbaren Wortaussprache, sondern auch im Apparat der Ton-
erzeugung und im Apparat der Erzeugung des sprachlichen Luft-
stromes ausgeführt werden. Bei einiger Übung kann man (wenn
man anders überhaupt Geschick dazu hat) alle Bewegungen des aus-
gebildeten Stotterns genau nachahmen. Ein Wadenkrampf würde
schwer nachzuahmen sein; einen Nystagmus rotatorius kann ich
»perfekt« nachmachen, doch ist das eben auch mehr ein »Tick«.
 
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