608 Willy Mayer
1. Bergsons Wahrnehmungs- und Gedächtnistheorie.
Die Frage des psychophysischen Zusammenhangs rückt Bergson
in seinem Buche Matière et mémoirei dadurch in ein neues Licht,
daß er alle psychischen Akte, soweit ihnen Vorgänge im Gehirn zu-
grunde liegen, »dem Fundamentalgesetz des Lebens, welches ein
Gesetz der Tätigkeit ist«2, unterworfen denkt. Die lebendigen Körper
sind »Aktionszentren»3, dem Gehirn als einem Teil des Körpers ist
jedes spekulative Interesse fremd, es steht unter dem Grundprinzip
der »force d'agir«, es spielt »die Rolle eines einfachen Leiters,
welcher Bewegung überführt, verteilt oder aufhebt«i.
Wie kommt nun unter solchen Voraussetzungen die Wahrnehmung
zustande? Wenn wir unseren Körper als Zentrum der Tätigkeit be-
trachten, so zeigt es sich, daß diese Aktivität mit ihrem Lichte alle
jene Teile der Materie erleuchtet, auf welche sie sich in jedem Augen-
blick erstrecken könnte. Dieselben Bedürfnisse, dieselbe Wirkungs-
fähigkeit (puissance d'agir), welche unseren Körper aus der gesamten
Materie ausgeschnitten haben, bestimmen auch die Grenzen der in
dem uns umgebenden Milieu deutlich unterschiedenen Körper. Alles
vollzieht sich so, als ob wir die tatsächliche Wirkung der äußeren
Dinge hindurchfiltrieren ließen, um die in ihnen enthaltene mögliche
Wirkung (action virtuelle) aufzufangen und zurückzubehalten: »Diese
virtuelle Wirkung der Dinge auf unseren Körper und unseres Körpers
auf die Dinge, das gerade ist unsere Wahrnehmung«5.
So führen gradweise und nicht Wesensunterschiede von der Reflex-
funktion des Rückenmarks, wo Reiz und Reaktion eindeutig verknüpft
sich folgen, herauf zur bewußten Wahrnehmung, die allein durch die
Variabilität jener Verbindung, durch die Möglichkeit der Wahl zwischen
einer größeren Anzahl von Reaktionen bedingt ist. Aber stets bedeutet
Bewußtsein »mögliche Tätigkeit« 6. Es kann dieser motorische An-
teil des Vorganges sich auf eine gewisse Haltung des Körpers7,
auf ein »Skizzieren in großen Umrissen«8 von einem gesehenen
Gegenstand, auf ein innervierendes »Unterstreichen gehörter Into-
1 H. Bergson, Matière et mémoire, Essai sur la relation du corps à l'esprit,
septième édition, Paris 1911 (Autorisierte Übertragung : Jena 1908). Die Seiten-
zahlen ohne besondere Angabe beziehen sich auf die französische Ausgabe.
2 S. 163. 3 S. 37. 4 S. 33/34. 5 S. 259. « S. 37. * S. 101. » S. 103.
1. Bergsons Wahrnehmungs- und Gedächtnistheorie.
Die Frage des psychophysischen Zusammenhangs rückt Bergson
in seinem Buche Matière et mémoirei dadurch in ein neues Licht,
daß er alle psychischen Akte, soweit ihnen Vorgänge im Gehirn zu-
grunde liegen, »dem Fundamentalgesetz des Lebens, welches ein
Gesetz der Tätigkeit ist«2, unterworfen denkt. Die lebendigen Körper
sind »Aktionszentren»3, dem Gehirn als einem Teil des Körpers ist
jedes spekulative Interesse fremd, es steht unter dem Grundprinzip
der »force d'agir«, es spielt »die Rolle eines einfachen Leiters,
welcher Bewegung überführt, verteilt oder aufhebt«i.
Wie kommt nun unter solchen Voraussetzungen die Wahrnehmung
zustande? Wenn wir unseren Körper als Zentrum der Tätigkeit be-
trachten, so zeigt es sich, daß diese Aktivität mit ihrem Lichte alle
jene Teile der Materie erleuchtet, auf welche sie sich in jedem Augen-
blick erstrecken könnte. Dieselben Bedürfnisse, dieselbe Wirkungs-
fähigkeit (puissance d'agir), welche unseren Körper aus der gesamten
Materie ausgeschnitten haben, bestimmen auch die Grenzen der in
dem uns umgebenden Milieu deutlich unterschiedenen Körper. Alles
vollzieht sich so, als ob wir die tatsächliche Wirkung der äußeren
Dinge hindurchfiltrieren ließen, um die in ihnen enthaltene mögliche
Wirkung (action virtuelle) aufzufangen und zurückzubehalten: »Diese
virtuelle Wirkung der Dinge auf unseren Körper und unseres Körpers
auf die Dinge, das gerade ist unsere Wahrnehmung«5.
So führen gradweise und nicht Wesensunterschiede von der Reflex-
funktion des Rückenmarks, wo Reiz und Reaktion eindeutig verknüpft
sich folgen, herauf zur bewußten Wahrnehmung, die allein durch die
Variabilität jener Verbindung, durch die Möglichkeit der Wahl zwischen
einer größeren Anzahl von Reaktionen bedingt ist. Aber stets bedeutet
Bewußtsein »mögliche Tätigkeit« 6. Es kann dieser motorische An-
teil des Vorganges sich auf eine gewisse Haltung des Körpers7,
auf ein »Skizzieren in großen Umrissen«8 von einem gesehenen
Gegenstand, auf ein innervierendes »Unterstreichen gehörter Into-
1 H. Bergson, Matière et mémoire, Essai sur la relation du corps à l'esprit,
septième édition, Paris 1911 (Autorisierte Übertragung : Jena 1908). Die Seiten-
zahlen ohne besondere Angabe beziehen sich auf die französische Ausgabe.
2 S. 163. 3 S. 37. 4 S. 33/34. 5 S. 259. « S. 37. * S. 101. » S. 103.