276 Max Scheler
Es ist dabei selbstverständlich, daß niemals die echten, wahren
sittlichen Werturteile, sondern immer nur die falschen, auf
Perversionen des Wertfühlens und auf Werttäuschungen beruhenden
Werturteile, und die ihnen entsprechenden Handlungs- und Lebens-
richtungen auf Ressentiment beruhen können. Nicht die echte Sitt-
lichkeit — wie Nietzsche meint — beruht auf Ressentiment. Diese
beruht auf einer ewigen Rangordnung der Werte und dieser ent-
sprechenden evidenten Vorzugsgesetzen, die so objektiv und so streng
»einsichtig« ist, wie die Wahrheiten der Mathematik. Es gibt eine
»ordre du cœur« und eine »logique du cœur« — wie Pascal sagt —
welche der sittliche Genius stückweise in der Geschichte aufdeckt
und die nicht selbst, sondern deren Erfassen und Gewinnen nur
historisch ist. Das Ressentiment aber ist eine der Quellen des Um-
sturzes jener ewigen Ordnung im menschlichen Bewußtsein. Es ist
eine Täuschungsquelle für die Erfassung jener Ordnung und ihrer
Einbildung in das Leben. Nur in diesem Sinne möge das Folgende
aufgefaßt sein1.
Dies sagt im Grunde Nietzsche selbst, wenn er von einer
»Fälschung der Werttafeln« durch das Ressentiment redet. Gleich-
wohl ist er auf der anderen Seite Relativist und Skeptiker in der
Ethik. Und doch setzen gefälschte Werttafeln »wahre« voraus, da
im anderen Falle es sich um einen bloßen »Kampf der Wertsysteme'
handeln könnte, von denen keines wahr und falsch ist.
Das Ressentiment vermag uns Vorgänge in der Geschichte der
sittlichen Anschauungen verständlich zu machen, die wir im kleinen
im täglichen Leben vor uns sehen. Doch müssen wir ein anderes
psychisches Gesetz dazu zu Hilfe nehmen. Bei Gelegenheit aller Art
von starken Strebungen auf die Realisierung eines Wertes hin, bei
gleichzeitig gefühlter Ohnmacht, dieses Streben wollend zu verwirk-
lichen, z. B. ein Gut zu gewinnen, stellt sich eine Tendenz des Be-
wußtseins ein, den unbefriedigenden Zustand der Spannung zwischen
Streben und Nichtkönnen dadurch zu überwinden, daß der positive
Wert des betreffenden Gutes geleugnet wird, ja unter Umständen ein
zu diesem Gute irgendwie Gegenteiliges als positiv wertvoll ange-
sehen wird. Es ist die Geschichte vom Fuchs und den zu sauren
Vgl. hierzu des Verfassers demnächst erscheinenden Aufsatz »Ordre du cœur«-
Es ist dabei selbstverständlich, daß niemals die echten, wahren
sittlichen Werturteile, sondern immer nur die falschen, auf
Perversionen des Wertfühlens und auf Werttäuschungen beruhenden
Werturteile, und die ihnen entsprechenden Handlungs- und Lebens-
richtungen auf Ressentiment beruhen können. Nicht die echte Sitt-
lichkeit — wie Nietzsche meint — beruht auf Ressentiment. Diese
beruht auf einer ewigen Rangordnung der Werte und dieser ent-
sprechenden evidenten Vorzugsgesetzen, die so objektiv und so streng
»einsichtig« ist, wie die Wahrheiten der Mathematik. Es gibt eine
»ordre du cœur« und eine »logique du cœur« — wie Pascal sagt —
welche der sittliche Genius stückweise in der Geschichte aufdeckt
und die nicht selbst, sondern deren Erfassen und Gewinnen nur
historisch ist. Das Ressentiment aber ist eine der Quellen des Um-
sturzes jener ewigen Ordnung im menschlichen Bewußtsein. Es ist
eine Täuschungsquelle für die Erfassung jener Ordnung und ihrer
Einbildung in das Leben. Nur in diesem Sinne möge das Folgende
aufgefaßt sein1.
Dies sagt im Grunde Nietzsche selbst, wenn er von einer
»Fälschung der Werttafeln« durch das Ressentiment redet. Gleich-
wohl ist er auf der anderen Seite Relativist und Skeptiker in der
Ethik. Und doch setzen gefälschte Werttafeln »wahre« voraus, da
im anderen Falle es sich um einen bloßen »Kampf der Wertsysteme'
handeln könnte, von denen keines wahr und falsch ist.
Das Ressentiment vermag uns Vorgänge in der Geschichte der
sittlichen Anschauungen verständlich zu machen, die wir im kleinen
im täglichen Leben vor uns sehen. Doch müssen wir ein anderes
psychisches Gesetz dazu zu Hilfe nehmen. Bei Gelegenheit aller Art
von starken Strebungen auf die Realisierung eines Wertes hin, bei
gleichzeitig gefühlter Ohnmacht, dieses Streben wollend zu verwirk-
lichen, z. B. ein Gut zu gewinnen, stellt sich eine Tendenz des Be-
wußtseins ein, den unbefriedigenden Zustand der Spannung zwischen
Streben und Nichtkönnen dadurch zu überwinden, daß der positive
Wert des betreffenden Gutes geleugnet wird, ja unter Umständen ein
zu diesem Gute irgendwie Gegenteiliges als positiv wertvoll ange-
sehen wird. Es ist die Geschichte vom Fuchs und den zu sauren
Vgl. hierzu des Verfassers demnächst erscheinenden Aufsatz »Ordre du cœur«-