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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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Zweites und drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0301
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Über Kessentiment und moralisches Werturteil. 297

barkeitsliebe durchschnittlicher Kirchlichkeit noch im Keime in sich
hat, gegeben. Nicht Gott ist seines Himmels und seiner Erde wegen
zu lieben — sondern Himmel und Erde, weil sie Gottes sind! Weil
durch sie als Ausdruck die ewige Liebe hindurchschimmert1. Und
dasselbe gilt wieder für die Gottesidee selbst. Die Antike hatte die
Vorstellung einer begrenzten Liebeskraft im Universum und forderte
darum, daß mit dieser sparsam umzugehen sei und Liebe auf jeden
nur nach seinem ihm einwohnenden Werte gerichtet werden dürfe.
Indem nun die Idee konzipiert wird, daß die Liebe in Gott selbst
ihren Ursprung habe, er selbst die unendliche Liebe und Barm-
herzigkeit sei, tritt von selbst die Folgerung auf, daß man die Guten
und Schlechten, die Gerechten und Sünder lieben müsse, die Freunde
und Feinde; und daß sich gerade in der Liebe zu den letzteren die
echteste, übernatürliche Liebe bekunde. Wogegen nun die antike
Forderung, die Guten und Gerechten zu lieben und die Bösen und
Ungerechten zu hassen, unter den verwerfenden Titel des »Phari-
säismus« fällt. Ja, in den weiteren metaphysischen Zusammenhängen,
wird nun >Gott« nicht nur der Schopfer, (an Stelle eines bloßen
Ideals, eines vollkommenen Seins der Welthinanbewegung), sondern
der Schöpfer aus Liebe, dessen Schöpfung, die »Welt« selbst, nur
die momentane Erstarrtheit einer unendlich weiter quellenden Liebes-
geste ist. Indem an Stelle des Sichselbstdenkers und Betrachters,
den der Gang der Weltdinge nicht kümmert und der auch nicht
wahrhaft verantwortlich ist für die Welt, jenes logischen Egoisten,

1 Vgl. den Schluß der Verse der hl. Thérèse:

»Und würd' ich auch nicht hoffen, wie ich hoffe,
Ich würde dennoch lieben wie ich liebe.« (S. auch Pranz Bren-
tano: »Ursprung sittlicher Erkenntnis«. Anhang.)
Oder die Stelle im Gebet der hl. Gertrud, wo sie den Wunsch ausspricht, daß
Jesus so arm und klein wie sie wäre, sie selbst aber alle Allmacht und Allweis-
heit (wie Gott) hätte, damit sie sich dieser entäußern könne, um zu Jesus herab-
zukommen. (S. Peeces Gertrudianae, Beuron.) Oder den Wunsch des hl. Ekke-
liard, »daß er lieber mit Jesus in der Hölle als ohne ihn im Himmel sein wolle«.
Stellen dieser Art, die sich beliebig häufen ließen, zeigen, wie vollständig un-
gegründet die Behauptung J. Kants und vieler anderer ist, daß jeder Hinblick
auf Gott im sittlichen Handeln auch ein Hinblick auf Lohn und Strafe und darum
eudämonistiseh und egoistisch sei. »Nichts ist mir süß, was mich nicht zu Gott
führt; möge mir der Herr alles nehmen, was er mir geben will und sich selbst
mir geben.« Augustinus Ennarr. 2.
 
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