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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig, 1.1912

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Viertes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2776#0613
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Über Störungen des »Wiedererkennens«. 609

nationen«i beschränken. Ja sogar »da eine Menge motorischer
Bahnen sich in jener Substanz (d. h. im Gehirn) auftun können, und
zwar alle zugleich für ein und denselben peripheren Reiz, hat dieser
Reiz die Möglichkeit, sich ins unendliche zu teilen und sich in zahl-
lose Ansätze zu motorischen Reaktionen zu verlieren«2.

Diese »reine Wahrnehmung«, »perception a l'état brut«3 bildet
die Grundlage zu dem »Gedächtnis des Leibes«. »Auf diese
"Weise formt sich eine Erfahrung ..... welche im Körper nieder-
gelegt wird, eine Reihe funktionsbereiter Mechanismen mit immer
zahlreicheren und mannigfaltigeren Reaktionen auf die äußeren Reize,
mit bereitstehenden Erwiderungen auf eine stets wachsende Anzahl
möglicher Interpellationen«4. Dieses Gedächtnis -— Bergson nennt es
einmal »die durch das Gedächtnis erleuchtete Gewohnheit«5 — ist
»wahrhaft im Sinne der Natur gerichtet«6, d. h. es ist jenem prag-
matischen Prinzip unterstellt: seine motorischen Mechanismen stellen
das »Gleichgewicht mit dem Milieu« her, »die Anpassung mit einem
Wort, welche der Hauptzweck des Lebens ist« 7.

Über diese einseitig vitalistische Betrachtungsweise schreitet je-
doch die Bergson sehe Theorie hinaus. Jenseits der Zweckidee des
Körperlichen und unabhängig von ihr gibt es ein Spontangedächt-
nis, das »in Form von Erinnerungsbildern alle Ereignisse unseres
täglichen Lebens gemäß ihrer Abwicklung aufzeichnet; es vernach-
lässigt keine Einzelheit; es läßt jeder Tatsache, jeder Gebärde ihren
Platz und ihren Zeitpunkt; ohne einen Hintergedanken an Nützlich-
keit oder an praktische Verwendbarkeit speichert es die Vergangen-
heit .... auf«8. Im Traum, im freien Spiel der Phantasie tritt dieses
»wiederschauende Gedächtnis«9 unbeeinflußt von praktischen Ten-
denzen in Erscheinung. Es ist »launenhaft in seinen Manifestationen«
und wird daher im normalen Zustande »durch das auf das Praktische,
das Nützliche gerichtete Bewußtsein fortwährend gehemmt« 10.

Das führt im extremsten Falle so weit, daß der sensorisch-motorische
Ablauf jede Einmischung der »traumhaften«u Bilderinnerungen aus-
schließt. Die meisten psychischen Akte aber kommen durch ein Zu-
sammenwirken der beiden Gedächtnisarten zustande, wobei stets das

* S. 128. 2 s. 16/17. « S. 32. * S. 78. f> S. 81. 6 s. 87.

i S. 81. » S. 78. a S. 87. w S. 96. » S. 86.
 
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