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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, Ergänzungsband 1.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.2775#0040
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36 Alfred Adler

Wille, Charakter, Affekt, Temperament, ja jede seelische Eigenschaft
anders zu verstehen, denn als Mittel, die einem geformten Lebens-
plan entsprechen und ihn ausführen. So wird als Wille eines
Patienten erscheinen, in die Behandlung zu kommen, sobald ihm dies
als Krankheitsbeweis erforderlich wird, wodurch sein Lebensplan,
etwa die Einschränkung seines Kampfplatzes auf das Haus, z. B. bei
der Platzangst, ganz erhebliche Förderang erfährt. Derselbe Patient
wird gelegentlich später den Willen zeigen, die Behandlung zu ver-
lassen, wenn ihm ein Mißerfolg der Kur als Mittel zur Fortführung
desselben Planes nötig erscheint. Das heißt aber: wenn einer zwei
gegenteilige Zwecke verfolgt, so kann er doch dasselbe wollen! Oder
wenn Sie die beiden Willensstrebnngen auf zwei Personen verteilen :
wenn zwei nicht dasselbe tun, ist es doch oft dasselbe (Feeschl, Schdl-
hof). Daß in diesem Falle durch Analyse der Erscheinungen kein Ver-
ständnis zu gewinnen ist, kann sicher behauptet werden. Was uns
dabei interessiert, das planvoll Individuelle, das persönliche Wesen,
liegt als Vorbereitung vor der Erscheinung, als Ziel hinter ihr und
ist in der Erscheinung selbst nur in einem Dnrchschnittspunkt ge-
troffen. In beiden Fällen wird aber auch die ganze Summe der
notwendig dazugehörigen Erscheinungen, Energie, Temperament,
Liebe, Haß, Verständnis, Unverstand, Leid und Freude, Besserung
und Verschlimmerung, soweit und in solchem Ausmaße vorhanden
sein, daß der vom Patienten gewollte Ausgang sichergestellt erscheint!
Daß auch die Bewußtheit und Unbewußtheit des Denkens, Fühlens
und Wollens durch diesen Zwang zur Gestaltung der Persön-
lichkeit diktiert wird, kann leicht nachgewiesen werden und so
ergibt sich auch die Verdrängung als ein Mittel und als eine
Schablone des individuellen Seins, nicht etwa als dessen Ursache.

Die gleichen Zusammenhänge gelten, wie ich gezeigt habe1, von
der Determination des Charakters und seiner Stellung als Mittel im
Dienste der Persönlichkeit. Die Abstufungen der konstitutionell ge-
gebenen Kräfte, ihre Abschätzung durch das Kind, die Erfahrungen
des Milieus beeinflussen Zielsetzung und Lebenslinien. Stehen diese
einmal fest, dann paßt der Charakter ebenso wie die Triebe
ganz genau zu ihnen. Freilich darf man eine Gegensätzlichkeit

' Adler, »Über den nervösen Charakter«, Bergmann, Wiesbaden 1912.
 
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