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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, Ergänzungsband 1.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.2775#0100
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96 Hattingberg

bei ist es ans gegangen wie jenen, deren forschender Blick sich den
Sinnesempfindungen, den Vorstellungen, den Willensakten etc. als
losgelösten psychischen Einheiten im Experiment oder in der Selbst-
beobachtung zuwendete, und die eben deshalb weder etwas ähn-
liches wie Persönlichkeit oder den Charakter entdecken konnten —
es sei denn im Bettlergewande der >individuellen Konstante«. Dieses
Ergebnis braucht aber unseren Feststellungen nichts an Wert zu
nehmen, wenn wir es als Hinweis darauf verstehen, daß es neben
der analytischen eine ihr gleichberechtigte Betrachtungsweise gibt,
die dynamische. Auch die Popularpsychologie scheint von ihr Ge-
brauch zu machen, denn sie spricht von Menschen, die durch ihren
Eigensinn zu irgend einem Verhalten getrieben oder veranlaßt wer-
den, sie kennt den »eigensinnigen Charakter«. Wenn wir ihre Be-
rechtigung zu solcher Ausdrucksweise nachprüfen wollen, dann
müssen wir nach den »Kräften« fragen, die sich im Eigensinn wirk-
sam zeigen, deren Manifestation also gleichsam der eigensinnige Me-
chanismus darstellen würde. Wir können das tun ohne Gefahr
weitgehender theoretischer Annahmen über die psychische Dynamik
überhaupt; »Kraft« soll nichts anderes sein als eine bewußte Ab-
straktion, die uns einen anderen Standpunkt gegenüber den gleichen
Phänomenen ermöglicht. Wir sind ja auch bei unserem analytischen
Vorgehen nicht ohne solche Hilfsbegriffe ausgekommen, wir haben
»Tendenzen«, »Strebungen« als vorläufig nicht weiter aufzulösende
Einheiten benutzt.

Wollen wir den essentiell eigensinnigen Menschen verstehen,
dann haben wir uns also die Frage vorzulegen, welche von den
Tendenzen, die wir als wirksam im eigensinnigen Mechanismus er-
kannten, wohl am wesentlichsten für die Bildung eines Charakters
sein könnte, und das ist unzweifelhaft die Tendenz »weg von der
Ich-Schwäche«.

Diese Ich-Schwäche ist eine primäre Gegebenheit des Erlebens
vieler Menschen — manchmal ihres Bewußtseins — ein stetig Wir-
kendes, das alle Reaktionen der Psyche beeinflußt. Über ihre Ent-
stehung und ihre Bedeutung will ich hier nur soviel sagen, als nötig
ist, um ihren Erklärungswert für die Psychologie des eigensinnigen
Charakters darzutun. Eine eingehende Darstellung erst kann für eine
Reihe von Behauptungen Beweise erbringen, die des Zusammenhangs
 
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