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Syrlin, Jörg; Pée, Herbert [Editor]
Das Ulmer Chorgestühl: 1468 - 1474 — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 82: Stuttgart: Reclam, 1962

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https://doi.org/10.11588/diglit.65316#0045
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zeichnerische Gefüge trägt die kontemplative Empfin-
dung herbei, die sinnende Demut wird ganz schon aus
der Form ersichtlich. Kein Gran der nun spröde beseel-
ten Festigkeit geht dabei verloren. Ein niederländisches
Sentiment (Rogier) spricht hinein.
Es sind im gleichen Maße die künstlerischen Mittel, die
die Erscheinung der Kontrastfigur, der abweisend stolzen
Cumana, bestimmen (Abb. 14, die Hände sind neu).
Über den ausgebreiteten Ellenbogen erhebt sich die
Büste in klarer Dreiecksform, die sich mehrmals in der
burgundischen Haube, im Halsausschnitt, in der Führung
der Arme wiederholt. Eine offene Symmetrie läßt die
Form auf ein Zentrum bezogen sein und faßt sie über
einer Mittelachse zusammen. Hier findet das selbstsichere
Menschentum der Büste seine Stütze, im hoch zurückge-
nommenen Kopf seinen fraglosen Ausdruck. Die plasti-
schen Mittel von Schwellung und Kerbung sind mit-
einander ins Spiel gebracht, körperliches Volumen und
entkörperlichte Linie treten gleichbedeutend ins Bild.
Eine volle, ungebrochene Harmonie ist erstrebt. Man
möchte — auch für den seelischen Habitus dieser Frauen-
gestalt — an italienische Quattrocentobüsten denken. Vor
den Hintergründen Rogier van der Weyden dort, Dona-
tello hier, begegnen sich europäische Möglichkeiten an
den Wangen des Ulmer Gestühls. Die Stadt ist nie
wieder so offenen Geistes gewesen.
Seinen Grundcharakter kann Ulm, kann auch der
Ulmer Künstler selbst in solchen Augenblicken nicht
verleugnen. Wohl adelt Syrlin eine gewisse Derbheit
des Ulmischen zu Festigkeit und Charakterstärke, doch
der bürgerliche Sinn für das Reale zieht ihm gelegent-
lich Grenzen vor der Tiefe des Seins. Die phrygisdie
Sibylle ist eine harte, nüchterne Erscheinung, die seelisch
nicht eben weit ausgreift. Die einfach-kräftigen Rich-
tungskontraste, das knochige Gesicht verstärken diesen
Eindruck. Die Phrygia ist am Ostende des Gestühls —

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