DIE NEUEN FORMGELEGENHEITEN DES 14. JAHRHUNDERTS
107
Schlankheit das Weich-Massive des zweiten Vierzehnten. Genug — wieder hat das Jahrhundert
dem folgenden entscheidend vorgearbeitet.
Dem Zeitalter schon der ersten Mystik war es zuzutrauen, daß es das Symbol sichtbar machte,.
— dem Zeitalter der erweiterten Formenbedingtheit, des malerischen Beziehungsreichtums
auch in der Plastik, daß es die tastbare Verwirklichung schuf. Beides ist eingetroffen.
Die Nachgiebigkeit eines der Architektur sich entfremdenden plastischen Denkens gegen
dichterische Vorstellungen von erweiternder Kraft entscheidet: neue Inhalte, die neue Formen
erzeugen wollen, können oder dürfen es jetzt. Es ist charakteristisch, wann sie den günstigen
Zeitpunkt für den Einbruch ins Plastische finden. Christus-Johannes und Pieta — das waren Grup-
pen, aber wesentlich plastische Gruppen, mehr in sich als nach dem Außerhalb hin beziehungsvoll.
Schutzmantel- und Sichelmadonna aber setzen das Außerhalb im Sinne des malerischen Raumes
voraus, der noch nicht „da“, aber überall gesucht und gewittert ist. Jene Gruppen konnten
schon in der ersten Jahrhunderthälfte plastisch möglich werden — diese erst in der zweiten,
wo gerade um die Einzelgestalt herum, deren Formen sich vom Rhythmischen befreien wollten,
die malerisch-räumliche Bedingtheit wuchs. Die Bedingtheit, das Außerhalb ist das Wesentliche
unserer Epoche.
Quellen: Ein Kölner Beispiel aus dem 14.: Madonna, Phot. Stoedtner, 11670. Das wichtigste Material
bei Stephan Beißel, Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland, S. 347 ff. — Die Legende der Sibylle bei
Baronius, Annales, Moguntiae 1601, 14 No.26. Die Tafel des„HortusDeliciarum“in der Straßburger Ausgabe 1901,
PI. LXXVI. — Die Doberaner Madonna: „Bau- und Kunstdenkmäler von Mecklenburg-Schwerin“, III, S. 612.
— Witte, Kat. Slg. Schnütgen, Skulpturen.
c) Die neuen Formgelegenheiten
Klagetumba, Epitaph und Schnitzaltar
Das Wesentliche der Bedingtheit äußert sich in den Formgelegenheiten, die unser Jahrhundert
erfand oder zuerst stärker entwickelte, neuen Denkmälerklassen, die der Geist der neuen Stil-
wandlungen wie der neuen Inhalte schuf. Sie gehen das Grabmal und den Altar an, Formge-
legenheiten also, die aus der Hüttenkunst hinausführen. Die Sitte, den Verstorbenen darzustellen
— eine Sitte, die eigentlich dem christlichen Geiste zu widersprechen scheint —, hatte seit Jahr-
hunderten sich in Werken niedergeschlagen. Die Bodenplatte, ursprünglich in Mosaik, in Um-
rißzeichnung, in erhöhtem Relief (Stein oder Erz), schließlich bis zum Scheine der Vollfigur
entwickelt, war längst da. In Deutschland wurde sie schon im frühen 13. Jahrhundert gelegentlich
über die Erde erhoben, auf architektonische Füße gesetzt: Tischgrab. Schon im Stiftergrabe des
Conrad Kurzbold (f 984), das beim Neubau des Limburger Domes gegen 1230 mit errichtet
wurde, verbanden sich die Füße mit Figuren, vier Geistlichen, zwei Tieren (Bär und Löwe). Es
ist also insofern keine Neuschöpfung unserer Epoche, wenn im Grabmal des Conrad Groß (s 1349),
Stifters der Heilig-Geist-Kirche zu Nürnberg, Figuren Klagender das Tischgrab tragen. Der
Tote liegt hier unter der Platte; dies ist für Doppelgräber geeignet. So schuf für die Straßburger
Wilhelmerkirche Wölfelin von Rufach das Doppelgrabmal der Grafen Wilhelm und Ulrich
von Werd, um die Mitte des 14. Jahrhunderts; es kombiniert die Bodenplatte mit dem Tischgrabe
auf Füßen in Tierform. Der sei. Erminold in Prüfening, wohl in den 80er Jahren des 13. Jhhs.jeden-
falls noch in diesem und sehr wahrscheinlich bei Gelegenheit der Leichenüberführung ausgeführt,
liegt auf einer Platte mit architektonischen Füßen; die Schwere der vollplastischen Figur machte
eine mittlere Stütze nötig. Denkt man sich diese erweitert, den Zwischenraum der Eckstützen
ganz ausfüllend, so erhält man die Form der Tumba (die indessen schon früher vorkommt).
8*
107
Schlankheit das Weich-Massive des zweiten Vierzehnten. Genug — wieder hat das Jahrhundert
dem folgenden entscheidend vorgearbeitet.
Dem Zeitalter schon der ersten Mystik war es zuzutrauen, daß es das Symbol sichtbar machte,.
— dem Zeitalter der erweiterten Formenbedingtheit, des malerischen Beziehungsreichtums
auch in der Plastik, daß es die tastbare Verwirklichung schuf. Beides ist eingetroffen.
Die Nachgiebigkeit eines der Architektur sich entfremdenden plastischen Denkens gegen
dichterische Vorstellungen von erweiternder Kraft entscheidet: neue Inhalte, die neue Formen
erzeugen wollen, können oder dürfen es jetzt. Es ist charakteristisch, wann sie den günstigen
Zeitpunkt für den Einbruch ins Plastische finden. Christus-Johannes und Pieta — das waren Grup-
pen, aber wesentlich plastische Gruppen, mehr in sich als nach dem Außerhalb hin beziehungsvoll.
Schutzmantel- und Sichelmadonna aber setzen das Außerhalb im Sinne des malerischen Raumes
voraus, der noch nicht „da“, aber überall gesucht und gewittert ist. Jene Gruppen konnten
schon in der ersten Jahrhunderthälfte plastisch möglich werden — diese erst in der zweiten,
wo gerade um die Einzelgestalt herum, deren Formen sich vom Rhythmischen befreien wollten,
die malerisch-räumliche Bedingtheit wuchs. Die Bedingtheit, das Außerhalb ist das Wesentliche
unserer Epoche.
Quellen: Ein Kölner Beispiel aus dem 14.: Madonna, Phot. Stoedtner, 11670. Das wichtigste Material
bei Stephan Beißel, Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland, S. 347 ff. — Die Legende der Sibylle bei
Baronius, Annales, Moguntiae 1601, 14 No.26. Die Tafel des„HortusDeliciarum“in der Straßburger Ausgabe 1901,
PI. LXXVI. — Die Doberaner Madonna: „Bau- und Kunstdenkmäler von Mecklenburg-Schwerin“, III, S. 612.
— Witte, Kat. Slg. Schnütgen, Skulpturen.
c) Die neuen Formgelegenheiten
Klagetumba, Epitaph und Schnitzaltar
Das Wesentliche der Bedingtheit äußert sich in den Formgelegenheiten, die unser Jahrhundert
erfand oder zuerst stärker entwickelte, neuen Denkmälerklassen, die der Geist der neuen Stil-
wandlungen wie der neuen Inhalte schuf. Sie gehen das Grabmal und den Altar an, Formge-
legenheiten also, die aus der Hüttenkunst hinausführen. Die Sitte, den Verstorbenen darzustellen
— eine Sitte, die eigentlich dem christlichen Geiste zu widersprechen scheint —, hatte seit Jahr-
hunderten sich in Werken niedergeschlagen. Die Bodenplatte, ursprünglich in Mosaik, in Um-
rißzeichnung, in erhöhtem Relief (Stein oder Erz), schließlich bis zum Scheine der Vollfigur
entwickelt, war längst da. In Deutschland wurde sie schon im frühen 13. Jahrhundert gelegentlich
über die Erde erhoben, auf architektonische Füße gesetzt: Tischgrab. Schon im Stiftergrabe des
Conrad Kurzbold (f 984), das beim Neubau des Limburger Domes gegen 1230 mit errichtet
wurde, verbanden sich die Füße mit Figuren, vier Geistlichen, zwei Tieren (Bär und Löwe). Es
ist also insofern keine Neuschöpfung unserer Epoche, wenn im Grabmal des Conrad Groß (s 1349),
Stifters der Heilig-Geist-Kirche zu Nürnberg, Figuren Klagender das Tischgrab tragen. Der
Tote liegt hier unter der Platte; dies ist für Doppelgräber geeignet. So schuf für die Straßburger
Wilhelmerkirche Wölfelin von Rufach das Doppelgrabmal der Grafen Wilhelm und Ulrich
von Werd, um die Mitte des 14. Jahrhunderts; es kombiniert die Bodenplatte mit dem Tischgrabe
auf Füßen in Tierform. Der sei. Erminold in Prüfening, wohl in den 80er Jahren des 13. Jhhs.jeden-
falls noch in diesem und sehr wahrscheinlich bei Gelegenheit der Leichenüberführung ausgeführt,
liegt auf einer Platte mit architektonischen Füßen; die Schwere der vollplastischen Figur machte
eine mittlere Stütze nötig. Denkt man sich diese erweitert, den Zwischenraum der Eckstützen
ganz ausfüllend, so erhält man die Form der Tumba (die indessen schon früher vorkommt).
8*