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MITTELRHEINISCHE SCHNITZPLASTIK
des Kindes ebenso wie das gewundene Durchtreten des Knies
von schlagender Ähnlichkeit. Das ist eine klare Reihe eines
westlichen „Typus“ der Schönen Madonna — und sie gipfelt
in einem offenbar mittelrheinischen Werke auf fränkischem
Boden. Den östlichen Formen etwas näher im Schema, aber
ebenso fern im Formengeiste, steht eine Madonna am Hause
Schustergasse 12 in Mainz. Daß die zu Horchheim bei Worms
salzburgischer Import ist, wurde bereits betont. Frau Dr. Zim-
mermann glaubt in ihr die Idee der Breslauer Figur wieder-
zufinden. Daß deren — nicht mittelrheinischer — Typus dem
Westen bekannt geworden sein kann, ist nicht ausgeschlossen.
Für den Oberrhein habe ich selbst es bei anderer Gelegenheit
bewiesen.
Viel weniger bedeutend, weit schematischer sind die „drei
Jungfern“ des Wormser Domes, Zeugen eines sehr deutlich
rhythmisierenden Gefühls (Back XVI). Dagegen muß reiche
Rhythmisierung im Dienste bedeutender Charakteristik sehr
groß in einer Sitzstatue aus Kloster Eberbach gewirkt haben
(Back XV, jetzt Wiesbaden). — Das größte Leben herrscht
doch in der Schnitzplastik. Die einzig schöne Holzfigur aus
Dieburg im Darmstädter Museum steht auf eigener Ebene.
Man würde zunächst kaum erstaunt sein, sie irgendwo im
Südosten zu finden. Das hat Garger richtig beobachtet: hier
ist die gleiche Verräumlichung durch eine schlanke Gestalt
geleitet, die in Klosterneuburg, Salzburg, Steyr, im Braun-
schweiger Skizzenbuche schließlich auch zu beobachten ist,
doch ist auch sie entschieden zarter als irgendwo im Osten.
Zu dieser Figur wüßte ich wieder keinen näheren Verwandten
am Mittelrhein. Wie vieles ist hier dunkel, sobald’wir uns von dem festen Boden entfernen, den die hier sicher
lokalisierte Kunst der Grabmäler, der Memorienpforte, der Terrakotten gewährt! Diesen nähern wir uns wieder
mit der wundervollen Holzmadonna aus Caub, die im Frankfurter Privatbesitze aufgetaucht ist und zu unseren
größten Schätzen gehört (uns. Abb. 184). Sie ist breiter und ist den Regeln des weichen Stiles näher als etwa
die Thonmadonnen von Dromersheim oder Hallgarten Aber etwas von ihrem sprechenden Blicke, ihrem heimlichen
Strahlen hat sie doch, und auch die Art des schwebenden Stehens auf der liegenden Mondsichel ist verwandt.
Ich glaube, Dialektverständige der sichtbaren Form hätten auch ohne Kenntnis der Herkunft auf den Mittelrhein
geraten müssen. Noch einmal erinnert man sich der Schönen Madonnen. Kein Zweifel, hier sind wir ihrer Grund-
stimmung nahe. Aber ist das für irgend jemanden, der Nüancen zu lesen versteht — und erst die Nüance ist hier
das Wesentliche — der gleiche Stil ? Die Würzburger Madonna samt ihren Verwandten ist zarter und im Mensch-
lichen allgemeiner, die östlichen sind räumlicher und träger zugleich und ebenfalls allgemeiner. Der individuelle
Kopf mit der etwas großen Nase — das ist eine Persönlichkeit, die man sich merkt, wie eine der lebendigen Gegen-
wart. Die östlichen Schönen gerade sind alle Varianten eines vorgefaßten ^Typus. Nie würde aus der holden Rund-
lichkeit ihrer apfelhaft weichen und festen Köpfchen eine Einzelform sich soweit herauswagen, wie hier die deli-
kate Nase; sie alle haben eine ganz bestimmte typisch-höfische Atmosphäre. Die Cauber ist ihnen mindestens
ebenbürtig als Form, als dargestellte Person ist sie ihnen überlegen. Und wie anders ist das Gewand! Keiner der
wirklich charakteristischen Züge der Schönen Madonnen findet sich hier. Nicht das allgemeine üppige Schwellen,
nicht die Umblätterung des Mantels, nicht die malerische Tiefe, die er birgt, nicht die Haarnadelfalte, nicht die
Einseitigkeit der Hängedraperie, nicht die fein unregelmäßige Umschlagsdiagonale. Nein, im Gewände ist das
Verhältnis geradezu umgekehrt. Bei der Cauber ist es viel typischer und der gesamten deutschen Kunst wohl
vertraut. Auch in den Händen ist ein Unterschied; so biegungsreich wie bei den Ostdeutschen ist ihre Auseinander-
faltung nicht. Selbst in der Bonner, die in diesem Punkte nicht die beste ist, hat doch die Linke (der Breslauer
außerordentlich ähnlich empfunden) mehr Sprache als die Rechte, die bei der Cauber den Fuß faßt. Deren Linke
drückt sich weich an das Fleisch des Kinderkörpers. Das allerdings muß man gestehen: dieses Motiv ist nur bei
der Krumauer noch tiefer empfunden, gerade da aber ist es ein nachweislich westlicher Einschlag. Das Motiv
der eingedrückten, nicht nur aufliegenden Mutterhand ist offenbar deutsche Fassung. Es kehrt auch meist bei all
186. Vesperbild, Koblenz, Mus.
MITTELRHEINISCHE SCHNITZPLASTIK
des Kindes ebenso wie das gewundene Durchtreten des Knies
von schlagender Ähnlichkeit. Das ist eine klare Reihe eines
westlichen „Typus“ der Schönen Madonna — und sie gipfelt
in einem offenbar mittelrheinischen Werke auf fränkischem
Boden. Den östlichen Formen etwas näher im Schema, aber
ebenso fern im Formengeiste, steht eine Madonna am Hause
Schustergasse 12 in Mainz. Daß die zu Horchheim bei Worms
salzburgischer Import ist, wurde bereits betont. Frau Dr. Zim-
mermann glaubt in ihr die Idee der Breslauer Figur wieder-
zufinden. Daß deren — nicht mittelrheinischer — Typus dem
Westen bekannt geworden sein kann, ist nicht ausgeschlossen.
Für den Oberrhein habe ich selbst es bei anderer Gelegenheit
bewiesen.
Viel weniger bedeutend, weit schematischer sind die „drei
Jungfern“ des Wormser Domes, Zeugen eines sehr deutlich
rhythmisierenden Gefühls (Back XVI). Dagegen muß reiche
Rhythmisierung im Dienste bedeutender Charakteristik sehr
groß in einer Sitzstatue aus Kloster Eberbach gewirkt haben
(Back XV, jetzt Wiesbaden). — Das größte Leben herrscht
doch in der Schnitzplastik. Die einzig schöne Holzfigur aus
Dieburg im Darmstädter Museum steht auf eigener Ebene.
Man würde zunächst kaum erstaunt sein, sie irgendwo im
Südosten zu finden. Das hat Garger richtig beobachtet: hier
ist die gleiche Verräumlichung durch eine schlanke Gestalt
geleitet, die in Klosterneuburg, Salzburg, Steyr, im Braun-
schweiger Skizzenbuche schließlich auch zu beobachten ist,
doch ist auch sie entschieden zarter als irgendwo im Osten.
Zu dieser Figur wüßte ich wieder keinen näheren Verwandten
am Mittelrhein. Wie vieles ist hier dunkel, sobald’wir uns von dem festen Boden entfernen, den die hier sicher
lokalisierte Kunst der Grabmäler, der Memorienpforte, der Terrakotten gewährt! Diesen nähern wir uns wieder
mit der wundervollen Holzmadonna aus Caub, die im Frankfurter Privatbesitze aufgetaucht ist und zu unseren
größten Schätzen gehört (uns. Abb. 184). Sie ist breiter und ist den Regeln des weichen Stiles näher als etwa
die Thonmadonnen von Dromersheim oder Hallgarten Aber etwas von ihrem sprechenden Blicke, ihrem heimlichen
Strahlen hat sie doch, und auch die Art des schwebenden Stehens auf der liegenden Mondsichel ist verwandt.
Ich glaube, Dialektverständige der sichtbaren Form hätten auch ohne Kenntnis der Herkunft auf den Mittelrhein
geraten müssen. Noch einmal erinnert man sich der Schönen Madonnen. Kein Zweifel, hier sind wir ihrer Grund-
stimmung nahe. Aber ist das für irgend jemanden, der Nüancen zu lesen versteht — und erst die Nüance ist hier
das Wesentliche — der gleiche Stil ? Die Würzburger Madonna samt ihren Verwandten ist zarter und im Mensch-
lichen allgemeiner, die östlichen sind räumlicher und träger zugleich und ebenfalls allgemeiner. Der individuelle
Kopf mit der etwas großen Nase — das ist eine Persönlichkeit, die man sich merkt, wie eine der lebendigen Gegen-
wart. Die östlichen Schönen gerade sind alle Varianten eines vorgefaßten ^Typus. Nie würde aus der holden Rund-
lichkeit ihrer apfelhaft weichen und festen Köpfchen eine Einzelform sich soweit herauswagen, wie hier die deli-
kate Nase; sie alle haben eine ganz bestimmte typisch-höfische Atmosphäre. Die Cauber ist ihnen mindestens
ebenbürtig als Form, als dargestellte Person ist sie ihnen überlegen. Und wie anders ist das Gewand! Keiner der
wirklich charakteristischen Züge der Schönen Madonnen findet sich hier. Nicht das allgemeine üppige Schwellen,
nicht die Umblätterung des Mantels, nicht die malerische Tiefe, die er birgt, nicht die Haarnadelfalte, nicht die
Einseitigkeit der Hängedraperie, nicht die fein unregelmäßige Umschlagsdiagonale. Nein, im Gewände ist das
Verhältnis geradezu umgekehrt. Bei der Cauber ist es viel typischer und der gesamten deutschen Kunst wohl
vertraut. Auch in den Händen ist ein Unterschied; so biegungsreich wie bei den Ostdeutschen ist ihre Auseinander-
faltung nicht. Selbst in der Bonner, die in diesem Punkte nicht die beste ist, hat doch die Linke (der Breslauer
außerordentlich ähnlich empfunden) mehr Sprache als die Rechte, die bei der Cauber den Fuß faßt. Deren Linke
drückt sich weich an das Fleisch des Kinderkörpers. Das allerdings muß man gestehen: dieses Motiv ist nur bei
der Krumauer noch tiefer empfunden, gerade da aber ist es ein nachweislich westlicher Einschlag. Das Motiv
der eingedrückten, nicht nur aufliegenden Mutterhand ist offenbar deutsche Fassung. Es kehrt auch meist bei all
186. Vesperbild, Koblenz, Mus.