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DIE BAUPLASTIK MANIERISTISCHER RICHTUNG
Klang — abgesehen davon, daß es hier auch noch eine zeitliche Ordnung gibt und dem expressiven
Manierismus ein dekorativer vorangeht und die Wege ebnet. Die Nüancen sind zahllos. Nie aber
wird — das ist außerordentlich bezeichnend — eine manieristische Figur den Eindruck selbst-
verständlichen Daseins, formal: den der schwellenden Breite machen. Immer wird sie — wie
Parmigianinos Madonna — ,,col collo lungho“ empfunden sein und eine Tendenz zur Länge
zeigen. Länge (gleich Höhe) ist das sicherste Mittel, Breite und Tiefe des Körperlichen auszu-
treiben. Länge ist auch das sicherste Mittel, Linie empfinden zu machen. Der Manierismus des
Vierzehnten, der im Bamberger Hohenlohe gipfelt, trifft sich darin mit jenem des Sechszehnten,
der in Greco gipfelt (beide Male in Ländern, die man nicht europäisch vorbildliche, nicht schul-
bildende, sondern ,,Konsequenzen ziehende“ nennen kann). Beide Male erscheint der Körper wie
ein durchsichtiger Buchstabe für,,Geist“. Beide Male gehen allgemeiner verbreitete, weit weniger
extreme Vorformen voraus. Beide Male aber schaut zum Ende das Todesbewußtsein heraus, noch
einmal ein Bewußtsein vom Verändernden im organischen Leben selbst, aber nicht vom
jugendlichen Wachstum, sondern vom verdorrenden Alter.
Der Manierismus der dunklen Zeit hat im Grunde durchaus Vergleichbares gewollt. Gewiß,
er sieht im Ganzen anders aus. Aber die ähnlichen seelischen Grundlagen, zunächst die Bewußt-
heit des Veränderns, müssen wir ihm durchaus zusprechen. Dazu gehört keineswegs die Vor-
stellung, daß die Künstler — wie heute — darüber viel geredet hätten. Es ist allzu offenbar
— man erinnere sich noch einmal der Hauptbeispiele aus den 40er Jahren — daß ein Wille zum
Anders-Sein, zum Anders-Machen vorhanden und als solcher deutlich war. Hier interessiert zu-
nächst sein manieristischer Weg: die Vergewaltigung der Figur durch Tektonisierung und Graphi-
sierung, d. h. durch eine Form von vordringlicher Konsonanz, die noch einmal die Figur dem
,,Natürlichen“ entfremdet. Und mit ihr zusammen geht überall jene seltsame Verdunkelung und
Vertrübung des Seelischen, die dann plötzlich in hohen Fällen die Maskenhaftigkeit des Mensch-
lichen spiritualistisch durchscheinend macht.
a) Die Bauplastik der manieristischen Richtung.
Das Datum des Halberstädter Andreas von 1427 gibt erwünschte Gelegenheit, von festem
Punkte aus in einem Zusammenhänge, in der inneren Stilgeschichte einer Bauhütte einen sehr
markanten Fall dieses Geschehens durch die ganze Epoche hindurch zu verfolgen. Noch immer
also, noch einmal Bauplastik. Sie war — das wissen wir — das Absterbende, die untergehende
Ausdrucksform, und darum wohl besonders geeignet für die neuen Formen, soweit sie sich als
Tugenden der Not begreifen lassen. Die spätere Lösung aus dem ,,Dunkel“ kam nicht mehr von
ihr, kaum noch für sie. Das macht sie besonders disponiert; das sieht man ihr oft schon an.
Die Bauplastik von Halberstadt ist von Dr. Hildegard Marchand in einer vorzüglichen, leider noch un-
gedruckten Leipziger Dissertation untersucht worden. Nur kurz kann hier der Weg beschrieben werden. Im
kleinen läßt sich zunächst noch einmal — in einer Bauhütte von vorwiegend manieristischer Stimmung — der
Gegensatz zwischen einer Kunst der Störungszonen und einer Kunst der Neutralisierung beobachten. Es gibt
im Halberstädter Dome eine Katharina — in deutlicher Beziehung zu der Braunschweiger Bauhütte der Annen-
kapelle — die das Irrewerden des weichen Stiles an sich selbst wesentlich in der Setzung eines „gelenklosen
massiven Blockes“ (Marchand) beweist. Kaum eine Spur von Störungszonen — Anorganisation der Masse.
Dieser Wille bestimmt unter den Aposteln den Johannes und in einigem den Bartholomäus. Der 1427 datierte
Andreas aber mitsamt Paulus und Petrus (offenbar von gleicher Hand) arbeitet zunächst mit der Bewegungs-
fülle des weichen Stiles. Er steigert sie nur ins Unruhige und schärft die einzelnen Falten — wie es sehr gerne
und früh die Alabasterplastik tut, an die man sich unwillkürlich erinnert fühlt (Schwertel). Er arbeitet also
mit gewissen Störungszonen. Gleichzeitig aber meldet sich im Barte des Andreas, noch mehr des Paulus, eine
DIE BAUPLASTIK MANIERISTISCHER RICHTUNG
Klang — abgesehen davon, daß es hier auch noch eine zeitliche Ordnung gibt und dem expressiven
Manierismus ein dekorativer vorangeht und die Wege ebnet. Die Nüancen sind zahllos. Nie aber
wird — das ist außerordentlich bezeichnend — eine manieristische Figur den Eindruck selbst-
verständlichen Daseins, formal: den der schwellenden Breite machen. Immer wird sie — wie
Parmigianinos Madonna — ,,col collo lungho“ empfunden sein und eine Tendenz zur Länge
zeigen. Länge (gleich Höhe) ist das sicherste Mittel, Breite und Tiefe des Körperlichen auszu-
treiben. Länge ist auch das sicherste Mittel, Linie empfinden zu machen. Der Manierismus des
Vierzehnten, der im Bamberger Hohenlohe gipfelt, trifft sich darin mit jenem des Sechszehnten,
der in Greco gipfelt (beide Male in Ländern, die man nicht europäisch vorbildliche, nicht schul-
bildende, sondern ,,Konsequenzen ziehende“ nennen kann). Beide Male erscheint der Körper wie
ein durchsichtiger Buchstabe für,,Geist“. Beide Male gehen allgemeiner verbreitete, weit weniger
extreme Vorformen voraus. Beide Male aber schaut zum Ende das Todesbewußtsein heraus, noch
einmal ein Bewußtsein vom Verändernden im organischen Leben selbst, aber nicht vom
jugendlichen Wachstum, sondern vom verdorrenden Alter.
Der Manierismus der dunklen Zeit hat im Grunde durchaus Vergleichbares gewollt. Gewiß,
er sieht im Ganzen anders aus. Aber die ähnlichen seelischen Grundlagen, zunächst die Bewußt-
heit des Veränderns, müssen wir ihm durchaus zusprechen. Dazu gehört keineswegs die Vor-
stellung, daß die Künstler — wie heute — darüber viel geredet hätten. Es ist allzu offenbar
— man erinnere sich noch einmal der Hauptbeispiele aus den 40er Jahren — daß ein Wille zum
Anders-Sein, zum Anders-Machen vorhanden und als solcher deutlich war. Hier interessiert zu-
nächst sein manieristischer Weg: die Vergewaltigung der Figur durch Tektonisierung und Graphi-
sierung, d. h. durch eine Form von vordringlicher Konsonanz, die noch einmal die Figur dem
,,Natürlichen“ entfremdet. Und mit ihr zusammen geht überall jene seltsame Verdunkelung und
Vertrübung des Seelischen, die dann plötzlich in hohen Fällen die Maskenhaftigkeit des Mensch-
lichen spiritualistisch durchscheinend macht.
a) Die Bauplastik der manieristischen Richtung.
Das Datum des Halberstädter Andreas von 1427 gibt erwünschte Gelegenheit, von festem
Punkte aus in einem Zusammenhänge, in der inneren Stilgeschichte einer Bauhütte einen sehr
markanten Fall dieses Geschehens durch die ganze Epoche hindurch zu verfolgen. Noch immer
also, noch einmal Bauplastik. Sie war — das wissen wir — das Absterbende, die untergehende
Ausdrucksform, und darum wohl besonders geeignet für die neuen Formen, soweit sie sich als
Tugenden der Not begreifen lassen. Die spätere Lösung aus dem ,,Dunkel“ kam nicht mehr von
ihr, kaum noch für sie. Das macht sie besonders disponiert; das sieht man ihr oft schon an.
Die Bauplastik von Halberstadt ist von Dr. Hildegard Marchand in einer vorzüglichen, leider noch un-
gedruckten Leipziger Dissertation untersucht worden. Nur kurz kann hier der Weg beschrieben werden. Im
kleinen läßt sich zunächst noch einmal — in einer Bauhütte von vorwiegend manieristischer Stimmung — der
Gegensatz zwischen einer Kunst der Störungszonen und einer Kunst der Neutralisierung beobachten. Es gibt
im Halberstädter Dome eine Katharina — in deutlicher Beziehung zu der Braunschweiger Bauhütte der Annen-
kapelle — die das Irrewerden des weichen Stiles an sich selbst wesentlich in der Setzung eines „gelenklosen
massiven Blockes“ (Marchand) beweist. Kaum eine Spur von Störungszonen — Anorganisation der Masse.
Dieser Wille bestimmt unter den Aposteln den Johannes und in einigem den Bartholomäus. Der 1427 datierte
Andreas aber mitsamt Paulus und Petrus (offenbar von gleicher Hand) arbeitet zunächst mit der Bewegungs-
fülle des weichen Stiles. Er steigert sie nur ins Unruhige und schärft die einzelnen Falten — wie es sehr gerne
und früh die Alabasterplastik tut, an die man sich unwillkürlich erinnert fühlt (Schwertel). Er arbeitet also
mit gewissen Störungszonen. Gleichzeitig aber meldet sich im Barte des Andreas, noch mehr des Paulus, eine