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Probst, Hansjörg
Neckarau (Band 2): Vom Absolutismus bis zur Gegenwart — Mannheim, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.3003#0372
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K. Mannheim-Neckarau seit 1899

1. Das Zeitalter der Weltkriege

1.1. Wilhelm II. und der Erste Weltkrieg - ein Überblick

Bekanntlich währt die Geschichte des preußisch-deutschen Kaiserreichs nur fünf Jahrzehnte, nämlich
von 1867/71 bis zur Ausrufung der Republik am 9. November 1918. Dieser Zeitabschnitt ist deutlich in
zwei Hälften geteilt. Während die ersten beiden Jahrzehnte des Kaiserreichs von der überragenden Ge-
stalt des Reichskanzlers Bismarck geprägt sind, steht die zweite Hälfte eindeutig unter dem Zeichen Wil-
helms II. (1888-1918). Daher rührt auch die Bezeichnung „Wilhelminisches Zeitalter" für die Jahre vor
dem Ersten Weltkrieg. Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß diese von dem jugendlichen Kaiser
geprägten Jahre eine Zeit des äußeren Glanzes waren. Das Deutsche Reich erlebte einen atemberauben-
den Aufstieg zur ersten Industrie- und Handelsmacht Europas, als es in den 90er Jahren begann, das bis
dahin führende England aus seinen Positionen zu verdrängen. Die Erwerbung eines Kolonialreiches, die
Errichtung von Stützpunkten in der Südsee und im fernen China, die Beteiligung an der Niederschlagung
des chinesischen Boxeraufstandes von 1900, die lautstarke Einmischung in den Burenkrieg 1899-1902,
der Bau der Bagdad-Bahn von Konstantinopel nach Basra und in den Hedschas, die Reisen Kaiser Wil-
helms II. in den Nahen Osten und nach Marokko und seine lauttönenden Äußerungen zu allen Weltpro-
blemen zeigen deutlich den Anspruch des Deutschen Reiches, eine Weltmacht zu werden. Diesem welt-
politischen Anspruch entsprach eine sehr schnell anwachsende Bevölkerung ebenso wie die steigende
Wirtschaftskraft. So vermehrte sich die Zahl der Einwohner des Deutschen Reiches zwischen 1870 und
1914 von 40000 000 auf 68 000 000. Damit gehörte das Deutsche Reich unter die zehn bevölkerungsstärk-
sten Länder der Erde. Nach China, Britisch-Indien, Rußland und den Vereinigten Staaten stand es an
fünfter Stelle. Führend war Deutschland auch in allen Wissenschaften und der Technik. Die weitaus
größte Zahl der Nobelpreise fiel an Deutsche. In allen Naturwissenschaften, in der Medizin, aber auch in
der Rechtswissenschaft, der Philosophie und den Geisteswissenschaften standen die Deutschen an erster
Stelle. Ihr Schul- und Hochschulwesen, ihre Staatsverwaltung und ihre Rechtspflege -1900 wurde das für
viele Staaten vorbildliche bürgerliche Gesetzbuch in Kraft gesetzt - wurden bewundert und nachgeahmt.
Die deutsche Sprache war die Sprache der Wissenschaft. Als Gipfelpunkt deutschen Organisationsvermö-
gens und deutscher Tatkraft erschien das preußisch-deutsche Militär. Gerade in diesem Bereich schlug
schon vor 1900 sehr deutlich die Bewunderung der Nachbarn in Furcht um, zumal es der Kaiser liebte,
immer wieder vernehmlich mit dem Säbel zu rasseln und auf die schimmernde Wehr des Reiches hinzu-
weisen.

Vielen ausländischen Beobachtern machte so das Deutsche Reich vor dem Ersten Weltkrieg den Ein-
druck unbändiger Kraft und eines alle Maße sprengenden Wachstums. So ist es nicht unverständlich, daß
aus Hochschätzung und Bewunderung Neid und Sorge wurden und daß das glänzende Spektakel immer
mehr Furcht als Freude weckte. Auf diese Weise geschah allmählich, was man in Deutschland als Isolie-
rung empfand und Einkreisung nannte: das von Bismarck kunstvoll geknüpfte System von Bündnissen
zur gemeinsamen Sicherheit Europas war mit seinem Abgang zerbrochen. Wilhelm II. und seine Kanzler
vermochten es nicht, außenpolitisch verläßliche Partner zu finden. Aus Bismarcks Bündnissystem war le-
diglich die krisengeschüttelte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn übrig geblieben, die das Reich zuneh-
mend in außenpolitische Risikobereitschaft hineinzog und bald mehr eine Belastung als eine Hilfe wurde.
Dabei erschien dem übrigen Europa der österreichische Kaiserstaat mit seinen 56 000 000 Einwohnern
zunehmend als weiteres deutsches Einflußgebiet, zumal die Deutschen in Österreich-Ungarn einen hefti-
gen Nationalismus zeigten. So bildeten die beiden Kaiserreiche mehr oder weniger natürlich einen gewal-
tigen zentraleuropäischen Kontinentalblock von der Nordsee bis in den Karpatenbogen und nach Dalma-
tien von 1,2 Mill. qkm mit über 120 Mill. Einwohnern. So ist es nicht verwunderlich, daß sich schon in den
90er Jahren die erste Bündniskombination der europäischen Randmächte abzeichnete, als Frankreich
und Rußland 1894 eine Militärkonvention schlössen, die der Verteidigung ihrer Interessen gegen die eu-
ropäische Vormacht Deutschland dienen sollte. Die Furcht vor der gewaltigen deutschen Vormachtstel-
lung war um die Jahrhundertwende schon so groß geworden, daß die drei anderen europäischen Groß-
mächte, Großbritannien, Frankreich und Rußland, ihre jahrhundertealten Gegensätze überwanden und

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