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Probst, Hansjörg
Neckarau (Band 2): Vom Absolutismus bis zur Gegenwart — Mannheim, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.3003#0320
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gen konnte das eine Zimmer, auch wenn es einigermaßen geräumig war, wegen sei-
ner Einengung durch die Betten und den ganzen Besitz der Familie kaum zum Auf-
enthalt taugen, so daß die kleine, halbdunkle, fensterlose Küche oft nur von 4 auf 2
1/2 m Grundfläche auch zu den Mahlzeiten dienen mußte. Abends mußte sich der
Mann hier aufhalten, um die schlafenden Kinder nicht zu stören. Auf diese schlech-
ten Wohnverhältnisse war die damals so vielfach beklagte Neigung der Arbeiter zum
Wirtshausbesuch zurückzuführen. Ganz am Ende des Wohnungselends lagen dieje-
nigen Ein- und Zweizimmerwohnungen, die gar keine eigentliche Küche hatten,
weshalb die Arbeiterfamilie gezwungen war, in dem einen Zimmer nicht nur zu ko-
chen, sondern auch die Vorräte dort aufzubewahren und dieses Zimmer auch als
Waschküche und als Trockenraum zu benutzen. „Daß in einer solchen Wohnung
auch das bescheidenste Maaß von häuslichem Behagen nicht möglich ist, bedarf kei-
nes weiteren Beweises. Man muß dabei allerdings häufig anerkennen, daß unter sol-
chen Umständen überhaupt noch das vorhandene Maaß von Ordnung eingehalten
werden kann und daß die Frau den Haushalt unter so schwierigen Verhältnissen mit
einer gewissen harmlosen Lebensfreude führt. "374

Wie beengt vor dem Ersten Weltkrieg die Wohnverhältnisse in Neckarau waren, zei-
gen die dürren Zahlen. Es gab um 1910 in Neckarau 1157 Häuser mit 3275 Wohnun-
gen, in denen über 16000 Menschen untergebracht waren. Auf eine Wohnung ka-
men also damals fast fünf Bewohner, beinahe zwei auf einen Wohnraum. Wörishof-
fer beschreibt im Jahre 1890 das Wohnungselend der Arbeiter so: ,Auch wenn diese
gut bezahlten Arbeiter noch mehr Geld einnehmen würden, würde ihre ganze Existenz
wegen der durch die Wohnungsverhältnisse bedingten Lebensweise doch eine proleta-
rische bleiben. Denn auch mit der Verfügung über mehr Geld könnten diese Arbeiter
doch nicht in größerer Zahl besser wohnen, weil bessere Wohnungen überhaupt nicht
zu haben sind und weil der Wohnungswucher doch bald Wege finden würde, die Ver-
hältnisse in seinem Interesse auszubeuten. "375

Unvorstellbar wurden die Verhältnisse, wenn die Familien aus Geldmangel noch
Kostgänger oder Schlafmädchen aufnahmen. "Am meisten ist dies bei Schlafmäd-
chen der Fall, welche bei der schlechten Bezahlung der weiblichen Arbeit im Gegen-
satze zu derjenigen der Männer meist nicht in der Lage sind, so viel zu bezahlen, daß
ihnen ein besonderes Zimmer eingeräumt wird. Sie schlafen dann in der Regel mit ei-
nem der Kinder in einem Bette, was fast mit Nothwendigkeit zu einer frühzeitigen Ver-
derbniß der Kinder solcher Arbeiterfamilien führen muß."316 Aus diesen Zuständen
erklärt sich leicht die Beobachtung auf alten Fotografien, daß die Straßen vor allem
von Kindern377 dicht bevölkert waren. Zwangsläufig mußte sich zumindest in der
wärmeren Jahreszeit der größte Teil des Lebens im Freien abspielen. Als Ursache
nennt Wörishoffer die explosionsartige Ausdehnung der Mannheimer Industrie, mit
der der Wohnungsbau nicht hatte Schritt halten können.

Sehr viel besser nahmen sich dagegen die Lebensverhältnisse der Arbeiterbauern
aus, selbst wenn sie nur einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb mit 18-40 a aus
etwas Allmendgut und einem Pachtfeld hatten. „Die Neigung zum Anbau eines
Stückchens Land, wenn es zunächst auch nur Pachtfeld ist, ist bei den in den Landor-
ten ansässigen Arbeitern sehr groß. Etwa in demselben Verhältnisse wie der Anbau
von etwas Gelände wird auch Viehhaltung in bescheidenem Umfange angetroffen,
meist sind es einige Ziegen, selten wird ein gewisser landwirtschaftlicher Wohlstand
durch eine Kuh repräsentiert. Ebenso vereinzelt kommt das Halten von Schweinen
vor. Das Halten von Vieh ist aber für den ländlichen Arbeiterhaushalt von der größten
Bedeutung, da hierdurch die Lebenshaltung auch bei bescheidenem Einkommen sich
erträglich gestaltet und mitunter eine einigermaßen genügende Ernährung erst ermög-
licht wird. Der Verbrauch der für die Kinder nötigen Milch ist oft geradzu von dem
Halten einiger Ziegen oder einer Kuh abhängig. Wo dies fehlt, wird den Kindern die

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