Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 1.1921

DOI issue:
Heft 1
DOI article:
Mynona; Heuser, Werner [Ill.]: Grotesk: Beitrag zur Mappe "Köpfe" von Werner Heuser
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.62259#0094
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Unfehlbaren, Urmusterhaften lange und tief nachsinnt, der wird die
erstaunliche Entdeckung machen, dass sogar auch unsere Logik und
Mathematik, alle unsere menschlichen Normen, nur Jargons, Gewohn-
heiten, Provinzialismen sind im Vergleich mit jenem unsäglichen
Muster undUrbild der Reinheit und Richtigkeit, welches uns eigentlich
jedesmal, wenn wir über eine Abweichung lachen, dunkel vorschwebt.
Wir lachen oder weinen über das Zerrbild des echten Lebens, dessen
unverzerrte Urgestalt wir aber gar nicht eigentlich kennen, sondern
nur ahnen, fühlen, glauben, lieben und hoffen. Dabei ist das Weinen
im Grunde nur eine ungeschickte, dilettantische, kindische Form des
Lachens: der Säugling weint früher, als er lächelt und lacht; zum
Lachen, und sei es bitter, gehört mehr Reife als zum Weinen, das
hoffentlich sehr bald zu den Atavismen gezählt werden wird. Und dann
wird es sich darum handeln, auch noch das Lachen von aller Galle zu
befreien und Galle immer bienenhafter in Honig umwandeln zu lernen.
Der groteske Humorist speziell hat den Willen, die Erinnerung
an das göttlich geheimnisvolle Urbild des echten Lebens dadurch
aufzufrischen, dass er das Zerrbild dieses verschlossenen Paradieses
bis ins Unmögliche absichtlich übertreibt. Er kuriert das verweich-
lichte Gemüt mit Härte, das sentimentale durch Zynismen, das in
Gewohnheiten abgestandene durch Paradoxie; er ärgert und chokiert
den fast unausrottbaren Philister in uns, der sich, aus Vergesslichkeit,
mitten in der Karikatur des echten Lebens ahnungslos wohlfühlt,
dadurch, dass er die Karikatur bis in das Groteske eben übertreibt,
solange, bis es gelingt, ihn aus dem nur gewähnten Paradies seiner
Gewöhnlichkeiten zu vertreiben und ihm das echte wenigstens in der
Ahnung nahezulegen: das echte, das so leicht deswegen geleugnet
wird, weil es zwar innerlich gewiss und bestimmt, äusserlich aber
nicht wahrnehmbar ist, und weil auch die geistreichsten Menschen
weit mehr Vertrauen zu dem haben, was sie sehen, hören, schmecken,
riechen und tasten können, als zu sich selber im allerinnerlichsten
Sinn, der das urmusterhafte Paradies bedeutet. Bei dieser seiner in-
wendigen Schwäche packt der gute Humorist und besonders der
Groteskenmacher sich selber und die Menschen. Und zu diesem
Zwecke wird er so ähnlich zum Heuchler, wie der Clown, der eine
Kreidedecke über sein Antlitz legt, um seine menschlichen Gefühle
nicht mehr zu verraten. Der Gefühlvolle heuchelt Trockenheit, um
das echte Gefühl vom philisterhaft schalen zu trennen und dieses
mit jenem zu verhöhnen, zu verspotten. Der Groteskenmacher ist
davon durchdrungen, dass man diese Welt hier, die uns umgibt,
gleichsam ausschwefeln muss, um sie von allem Ungeziefer zu
reinigen; er wird zum Kammerjäger der Seelen. Aus einer Art
Schamhaftigkeit macht er aber den Vorhang über seinem Aller-
heiligsten so starr und fest und stickt so groteske Gestalten hinein,
 
Annotationen