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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 2
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An-Ski, S.: Der Charakter Clemenceau: Persönliche Erinnerungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0127
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keineswegs mit einem Rußland der Knute und Sibiriens 1" Clemenceau war nicht
nur Gegner des Bündnisses, sondern überhaupt des ganzen chauvinistischen
Lärms, der durch die französischen Patrioten mit ihrer „Revanche"-Propaganda
und dem üblichen Säbelgerassel entfesselt wurde. Daher überhäuften ihn eben
die Patrioten — und ganz besonders die sogenannten „Hurra-Patrioten" vom
Schlage Deroulede und Rochefort — mit den schlimmsten Beschimpfungen; sie
nannten ihn niemals anders als „traitre", „sans-patrie" usw.
Clemenceau war einer der ersten Verteidiger des unschuldig verurteilten
Dreyfus und wurde rasch die Zentralfigur im gigantischen Kampf gegen die ver-
einigten Kräfte des französischen Militarismus und Klerikalismus. Man kann mit
Bestimmtheit sagen: Clemenceau war es, der auf seinen mächtigen Schultern
diesen ganzen Kampf zäh aushielt. Wer weiß, womit der Dreyfus-Prozeß geendet
hätte ohne die eiserne Willenskraft und übermenschliche Energie dieses großen
Kämpfers.
Zu jener Zeit war ich u. a. Mitarbeiter an der von Clemenceau herausgegebenen
Zeitung „L'Aurore", wo ich Auszüge aus der russischen Tagespresse veröffent-
lichte, und begegnete häufig Clemenceau in der Redaktion. Ich sehe noch jetzt
sein damaliges Bild wie lebendig vor meinen Augen schweben : mittleren Wuchses,
breitschultrig, das Gesicht aus Bronze, scharfe wie aus Stahl geprägte Züge, her-
vorragende Backenknochen, schiefe Augenhöhlen — mit einem Wort: ein Kal-
mückenantlitz. Aber der schimmernde, kluge, durchdringende Blick der tief-
schwarzen Augen durchzuckte dieses Gesicht, verlieh ihm einen sympathischen,
anziehenden Ausdruck. Er trug fast immer einen alten, abgenutzten Rock,
der ihm das Aussehen eines baccalaureus gab. Er benahm sich ruhig, mild, ja
fast demütig. Und dennoch erkannte man in seinen Bewegungen, in Stimme und
Blick irgendeine ungewöhnliche Kraft. Schon damals galt Clemenceau als der
stärkste Charakter Frankreichs.
Ihren Höhepunkt erreichte die Dreyfus-Affäre mit dem Prozeß gegen Emile
Zola, der auf die Anklagebank kam infolge seines berühmten vernichtenden
Artikels „J'accuse". Dieser Prozeß wühlte die ganze Welt auf und teilte Frank-
reich in zwei feindliche Lager ein, die bei jeder Gelegenheit leidenschaftlich
einander bekämpften. Aus der Tagespresse griff der Kampf auf stürmische Massen-
versammlungen und auf die Straße über. Jede Partei hatte ihre Losungen und
Schlagworte. Die Dreyfus-Anhänger: „Es lebe die Gerechtigkeit! Hoch die
Republik!" Die Dreyfus-Gegner: „Es lebe die Armee! Hoch das Vaterland!"
Dreizehn Tage lang dauerte der Zola-Prozeß, und während dieser ganzen
Zeit brauste und brodelte Paris einem Vulkan ähnlich, ohne sich für andere An-
gelegenheiten und Ereignisse zu interessieren. Das Gerichtsgebäude, in dem die
Verhandlungen stattfanden, war vom frühen Morgen bis in die späten Nacht-
stunden hinein von einer tausendköpfigen Menge belagert, die die ganze Zeit
einen Kampf unter sich in der Form von Aus- und Zwischenrufen führte, aber
hier und da kam es auch zum Handgemenge. Drinnen, im Gerichtssaal, bestand
das Publikum fast ausschließlich aus Dreyfus-Gegnern und benahm sich sehr
zügellos; man unterbrach häufig mit Ausrufen sowohl die Verteidiger wie Zola,
und sogar die Richter. Als in der letzten Sitzung der Gerichtsvorsitzende den

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