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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 2
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An-Ski, S.: Der Charakter Clemenceau: Persönliche Erinnerungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0136
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schreiben beigefügt, in dem erwähnt war, daß bei diesem Frühstück verschiedene
weittragende Weltfragen erörtert werden sollten, die im Leben der gesamten
Menschheit Epoche machen würden . .. Schon seit einiger Zeit hatte ich die
Beobachtung gemacht, daß Jacquesliard gewisse Zeichen der Abnormalität auf-
wies. Dieses Schreiben schien nun meinen Vermutungen noch festere Grundlage
zu geben. Unterwegs begegnete ich dem bekannten „Narodowoletz" Dubano-
witsch, der mir mitteilte, daß auch er eine ähnliche Einladung mit einem Begleit-
schreiben erhalten habe. Nichtsdestoweniger begaben wir uns beide zu Jacques-
liard, an dessen „Frühstüc essen" teilzunehmen. Jacquesliards Wohnung be-
stand aus vier oder fünf Zn 'mern. In sämtlichen Räumen waren Tische für
mehrere hundert Personen gedeckt. Im Vorzimmer sah ich etwa zwei- bis drei-
hundert Weinflaschen aufgetürmt. Offenbar erwartete der Hausherr die Ankunft
zahlreicher Gäste; es erschienen aber nur acht oder neun Personen, darunter auch
Clemenceau. Wie es sich nachher herausstellte, hatte Jacquesliard die Vertreter
sämtlicher Staaten, die an der Pariser Weltausstellung beteiligt waren, den
Präsidenten der Republik, Minister, Senatoren, Deputierte und namhafte Politiker,
insgesamt etwa 300 Personen, eingeladen. Zweck dieses Frühstücks sollte „eine
internationale Beratung über Fragen betreffend die Ausrottung der sozialen
Ungerechtigkeit in der Welt und die Errichtung eines neuen allweltlichen Groß-
staates auf den Grundlagen der sozialistischen Gleichheit und Gerechtigkeit"
sein ... Nur soviel!... Da aber der Einladung nur wenige persönliche Freunde
Folge geleistet hatten, war es selbstverständlich ganz zwecklos, Fragen zu er-
örtern. Jacquesliard war aufs äußerste niedergedrückt, ja fast erschüttert infolge
der Abwesenheit der eingeladenen hochgestellten Persönlichkeiten. Clemenceau
tröstete ihn nach Möglichkeit, bewies, daß solche Dinge nicht mit einem Schlag
gemacht werden könnten usw. Trotz den reichhaltigen Getränken und Speisen
war das „Frühstück" in sehr gedrückter Stimmung verlaufen ...
Am nächsten Tag in den Nachmittagsstunden empfing Clemenceau ein Lokal-
telegramm von Jacquesliard mit der Bitte, ihn unverzüglich in einer höchst
dringenden Angelegenheit zu besuchen. Clemenceau begab sich sofort in die
Wohnung seines Freundes und traf dort den festlich angezogenen Jacquesliard
an, der ihn feierlich begrüßte: „Lieber Freund Clemenceau! Ich will dir eine
freudige Nachricht verkünden! Heute wurde die allweltliche soziale Revolution
vollzogen! Mich hat man zum Präsidenten der Vereinigten Staaten der Allwelt-
lichen Sozialistischen Republik gewählt! Ich ernenne dich zu meinem General-
sekretär! Wir müssen sofort an die Bearbeitung einer neuen sozialistischen Ver-
fassung herantreten!"
„Ich bin zu deinen Diensten bereit", antwortete ruhig Clemenceau und nahm
seinen Platz am Schreibtisch ein.
Die ganze Nacht hindurch verbrachte Clemenceau bei seinem unglücklichen
Freund, schrieb und bearbeitete mit ihm die Verfassung der „Allweltlichen
Sozialistischen Republik"... In den grauen Morgenstunden, als endlich die Arbeit
zu Ende war, verabschiedete er sich herzlich und ging nach Hause.
Ein paar Stunden darauf wurde Jacquesliard einem Irrenhause eingeliefert,
wo er nach einiger Zeit starb.
(Übertragung aus dem Hebräischen von J. Gluski)

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