HUNDERTZEHN PROZENT
„Der Ungar ist ein Europäer von iio Prozent". Der Herr aus Paris, dem
ich dies sagte (in der Hall des Ritzhotels am Budapester Donaukorso, beim
Fünfuhrtee, dem gelangweilt zwei Dutzend Paare beiwohnten, gelangweilt
wie allen andern vorschriftsmäßigen Ritualen ...), ... der Herr irgendwo
aus Paris lächelte lange. Dann fragte er graziös: „Und wir Franzosen?" Ich
zögerte nicht, achtzig Prozent zu sagen. Und: der Rest sei „gloire", „chic
parisien" und „grande nation". Aber der Ungar ist, knapp gerechnet, hundert-
zehnprozentig; der Ungar nämlich, auf den es ankommt, das Talent, das in
Hollywood arriviert ist, am Montparnasse malt und die deutschen Provinz-
bühnen der Großstadt mit Komödien versorgt. Seltsames Schicksal: diese
schöne Stadt Budapest (denn die Ungarn, auf die es ankommt, sind bloß aus
Budapest ...), diese Stadt ist ewig auf der Flucht vor sich selbst, auf der
Flucht vor dem Osten, auf der Flucht vor dem Balkan. Sie will die Tatsache
nicht wahrhaben und steigert sich ins Grenzenlose. Sie übertreibt alles, auch
ihre Kraft, ihr Talent; sie täuscht eine exakte Zivilisation vor, die auf einer
ganz anders gearteten Kultur ruht und darum manche Unsicherheit in sich
birgt. Die Furcht, nur irgendeiner aus irgendeiner kleinen Nation zu sein,
zwingt den Ungarn in manche Maske; in der des Kultursnobs fühlt er sich
am wohlsten. Er trägt sie geschickt und mit mehr Vehemenz, als es die
europäische Würde verträgt; mit etwa zehn Prozent mehr Vehemenz also und
durchaus mit der Eifersucht des Traditionslosen. Er ist ungefähr das typische
Gegenteil des Amerikaners, dessen schöpferische Naivität stolz darauf ist,
keine Tradition zu haben. Der Ungar hingegen, seit tausend Jahren Stief-
kind der Mutter Europa, reklamiert die ganze Welt- und Kulturgeschichte
für sich: eine andere, aber nicht ganz unwirksame Art von Naivität. Der
nationale Stolz kennt ja keine Grenzen; wißt ihr denn nicht, daß zum Beispiel
ungarische Kunsthistoriker auch Albrecht Dürer als Landsmann ansprechen,
und wer weiß, ob nicht eines Tages Hans Sachs einer posthumen Annexion zum
Opfer fällt. Man munkelt allerlei von Christoph Columbus ...; aber den
Broadway haben wirklich erst einige ungarische Journalisten entdeckt.
. . . Aber auch den Kurfürstendamm. Ich kenne einen, der kam über's
Romantische Cafe, — ein kleiner Druckfehler bloß, aber wer wird denn so
474
„Der Ungar ist ein Europäer von iio Prozent". Der Herr aus Paris, dem
ich dies sagte (in der Hall des Ritzhotels am Budapester Donaukorso, beim
Fünfuhrtee, dem gelangweilt zwei Dutzend Paare beiwohnten, gelangweilt
wie allen andern vorschriftsmäßigen Ritualen ...), ... der Herr irgendwo
aus Paris lächelte lange. Dann fragte er graziös: „Und wir Franzosen?" Ich
zögerte nicht, achtzig Prozent zu sagen. Und: der Rest sei „gloire", „chic
parisien" und „grande nation". Aber der Ungar ist, knapp gerechnet, hundert-
zehnprozentig; der Ungar nämlich, auf den es ankommt, das Talent, das in
Hollywood arriviert ist, am Montparnasse malt und die deutschen Provinz-
bühnen der Großstadt mit Komödien versorgt. Seltsames Schicksal: diese
schöne Stadt Budapest (denn die Ungarn, auf die es ankommt, sind bloß aus
Budapest ...), diese Stadt ist ewig auf der Flucht vor sich selbst, auf der
Flucht vor dem Osten, auf der Flucht vor dem Balkan. Sie will die Tatsache
nicht wahrhaben und steigert sich ins Grenzenlose. Sie übertreibt alles, auch
ihre Kraft, ihr Talent; sie täuscht eine exakte Zivilisation vor, die auf einer
ganz anders gearteten Kultur ruht und darum manche Unsicherheit in sich
birgt. Die Furcht, nur irgendeiner aus irgendeiner kleinen Nation zu sein,
zwingt den Ungarn in manche Maske; in der des Kultursnobs fühlt er sich
am wohlsten. Er trägt sie geschickt und mit mehr Vehemenz, als es die
europäische Würde verträgt; mit etwa zehn Prozent mehr Vehemenz also und
durchaus mit der Eifersucht des Traditionslosen. Er ist ungefähr das typische
Gegenteil des Amerikaners, dessen schöpferische Naivität stolz darauf ist,
keine Tradition zu haben. Der Ungar hingegen, seit tausend Jahren Stief-
kind der Mutter Europa, reklamiert die ganze Welt- und Kulturgeschichte
für sich: eine andere, aber nicht ganz unwirksame Art von Naivität. Der
nationale Stolz kennt ja keine Grenzen; wißt ihr denn nicht, daß zum Beispiel
ungarische Kunsthistoriker auch Albrecht Dürer als Landsmann ansprechen,
und wer weiß, ob nicht eines Tages Hans Sachs einer posthumen Annexion zum
Opfer fällt. Man munkelt allerlei von Christoph Columbus ...; aber den
Broadway haben wirklich erst einige ungarische Journalisten entdeckt.
. . . Aber auch den Kurfürstendamm. Ich kenne einen, der kam über's
Romantische Cafe, — ein kleiner Druckfehler bloß, aber wer wird denn so
474