Stehen GPU und die Kommunistische Internationale. Etwas ist von der früheren
Politik zurückgeblieben — infolge des Trägheitsgesetzes. Aber je länger, desto
mehr wird sie ausgeräuchert. Alles wurde brutaler und zynischer. Niemand im
Westen hegt noch Illusionen über das wahre Gesicht der Sowjetmacht. Die Hoff-
nungen auf die Möglichkeit einer Evolution und auf die Möglichkeit einer ge-
schäftlichen und kulturellen, dann vielleicht auch einer politischen Annäherung
an sie, sind geschwunden. Vielleicht nur die unbedenklichen „Realpolitiker" ver-
suchen noch, den einen oder anderen Vorteil zu erlangen. Nicht darauf kommt es
aber an. Die Hauptsache ist, daß hinter der ganzen* Außenpolitik von heute gar
kein Ziel mehr liegt. Die Weltrevolution? Der Aufstand der „Arbeiter und
Bauern"? Dazu braucht man kein Außenministerium. Und allmählich verwandeln
sich die diplomatischen Vertretungen des Sowjetverbandes im Ausland in formelle
Verhüllungen der Unterminierarbeit der Komintern und der GPU. Das einzige,
was man jetzt vom Leiter der Außenpolitik verlangt, ist: die Spuren ver-
wischen können, im Notfall zu lügen, im Notfall zu liebedienern. Wozu dann
Tschitscherin?
Auch in früheren Zeiten, schon nach dem Tode Lenins, als GPU und Komin-
tern begannen, in der Auslandsarbeit eine große, nicht nebensächliche, sondern
selbständige, oft tonangebende Rolle zu spielen, und als die von Tschitscherin fein
zusammengefügten Kombinationen scheiterten, zu den entgegengesetzten Resul-
taten führten — versuchte er zu protestieren. Er war aber kein Mann der Lebens-
energie. Das, was seine Stärke beim Ausarbeiten politischer Pläne bildete, war
seine Schwäche, wenn diese Pläne mit dem Leben zusammenstießen. Tschitscherin
verstand es nicht, auf etwas zu bestehen, sein Recht durchzusetzen. Wenn seine
Pläne unter dem Druck feindlicher Einflüsse ins Wanken gerieten, verlor er den
Kopf. Er rannte sinnlos umher, wie ein Huhn, das sich vor einem Auto rettet. Er
jammerte, war launisch, verfluchte alle und alles, schließlich aber stellte er sich
krank, legte sich hin, in den Plaid gehüllt — und wartete. Er wartete, wie alle im
Leben hilflosen Menschen, daß ein Wunder geschehe, daß jemand komme, dessen
starker Wille seine schwache Seele nehmen und sie auf einen echten, dornen-
freien Weg retten sollte. Niemand aber kam. Der Mensch, der ihn verstanden
und unterstützt hatte, war gestorben. Den neuen Männern paßte er nicht.
Man hörte ihm herablassend zu, wenn er sich ereiferte, hysterisch einen
Gedanken begründete, der den Bestimmungen der „Instanz" zuwiderlief, und
dann... wurde ein entgegengesetzter Beschluß gefaßt. Schließlich erkrankte
Tschitscherin wirklich.
Eine Zeitlang bekam Tschitscherin keine Zeitungen. In äußerster Arregung
stürzte er zu seinem Sekretär: „Ich verstehe nicht . .. Erstaunliche Zustände. Ein
Staatsmann des sechsten Teiles des Erdballs — und kann die für ihn wichtigen
Zeitungen nicht bekommen!"
Darüber wurde dann gelacht... besonders über den Ausdruck: Staatsmann.
Es war aber eigentlich nicht zum Lachen, wenn man die anekdotischen Umstände
entfernt und den Gedanken richtig erfaßt. Weil in der Gestalt Tschitscherins einer
der wirklichen Staatsmänner der Leninschen Epoche von der politischen Bühne
verschwindet.
(Deutsch von Josef Melnik)
645
Politik zurückgeblieben — infolge des Trägheitsgesetzes. Aber je länger, desto
mehr wird sie ausgeräuchert. Alles wurde brutaler und zynischer. Niemand im
Westen hegt noch Illusionen über das wahre Gesicht der Sowjetmacht. Die Hoff-
nungen auf die Möglichkeit einer Evolution und auf die Möglichkeit einer ge-
schäftlichen und kulturellen, dann vielleicht auch einer politischen Annäherung
an sie, sind geschwunden. Vielleicht nur die unbedenklichen „Realpolitiker" ver-
suchen noch, den einen oder anderen Vorteil zu erlangen. Nicht darauf kommt es
aber an. Die Hauptsache ist, daß hinter der ganzen* Außenpolitik von heute gar
kein Ziel mehr liegt. Die Weltrevolution? Der Aufstand der „Arbeiter und
Bauern"? Dazu braucht man kein Außenministerium. Und allmählich verwandeln
sich die diplomatischen Vertretungen des Sowjetverbandes im Ausland in formelle
Verhüllungen der Unterminierarbeit der Komintern und der GPU. Das einzige,
was man jetzt vom Leiter der Außenpolitik verlangt, ist: die Spuren ver-
wischen können, im Notfall zu lügen, im Notfall zu liebedienern. Wozu dann
Tschitscherin?
Auch in früheren Zeiten, schon nach dem Tode Lenins, als GPU und Komin-
tern begannen, in der Auslandsarbeit eine große, nicht nebensächliche, sondern
selbständige, oft tonangebende Rolle zu spielen, und als die von Tschitscherin fein
zusammengefügten Kombinationen scheiterten, zu den entgegengesetzten Resul-
taten führten — versuchte er zu protestieren. Er war aber kein Mann der Lebens-
energie. Das, was seine Stärke beim Ausarbeiten politischer Pläne bildete, war
seine Schwäche, wenn diese Pläne mit dem Leben zusammenstießen. Tschitscherin
verstand es nicht, auf etwas zu bestehen, sein Recht durchzusetzen. Wenn seine
Pläne unter dem Druck feindlicher Einflüsse ins Wanken gerieten, verlor er den
Kopf. Er rannte sinnlos umher, wie ein Huhn, das sich vor einem Auto rettet. Er
jammerte, war launisch, verfluchte alle und alles, schließlich aber stellte er sich
krank, legte sich hin, in den Plaid gehüllt — und wartete. Er wartete, wie alle im
Leben hilflosen Menschen, daß ein Wunder geschehe, daß jemand komme, dessen
starker Wille seine schwache Seele nehmen und sie auf einen echten, dornen-
freien Weg retten sollte. Niemand aber kam. Der Mensch, der ihn verstanden
und unterstützt hatte, war gestorben. Den neuen Männern paßte er nicht.
Man hörte ihm herablassend zu, wenn er sich ereiferte, hysterisch einen
Gedanken begründete, der den Bestimmungen der „Instanz" zuwiderlief, und
dann... wurde ein entgegengesetzter Beschluß gefaßt. Schließlich erkrankte
Tschitscherin wirklich.
Eine Zeitlang bekam Tschitscherin keine Zeitungen. In äußerster Arregung
stürzte er zu seinem Sekretär: „Ich verstehe nicht . .. Erstaunliche Zustände. Ein
Staatsmann des sechsten Teiles des Erdballs — und kann die für ihn wichtigen
Zeitungen nicht bekommen!"
Darüber wurde dann gelacht... besonders über den Ausdruck: Staatsmann.
Es war aber eigentlich nicht zum Lachen, wenn man die anekdotischen Umstände
entfernt und den Gedanken richtig erfaßt. Weil in der Gestalt Tschitscherins einer
der wirklichen Staatsmänner der Leninschen Epoche von der politischen Bühne
verschwindet.
(Deutsch von Josef Melnik)
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