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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 2
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Galahad: Urweiber
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0176
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unberechenbar. Scheinbar harmlose Fälle, zwar später mit letaler Wendung,
werden abgelehnt, Verzweifelte zuweilen übernommen. „Echantillons" empfängt
sie täglich aus aller Herren Ländern, wohin die Flüsterwelle drang, Patienten in
Person, wenn überhaupt, erst nach der Kur, weil eine gesunde Kuh ihr liebere Ge-
sellschaft ist als eine kranke Herzogin.
Allerdings muß der Genesene schon recht genesen sein, um ihres ersten An-
blicks Schock zu überstehen.
Meist fällt ihm auf der steilen Dorfstraße über dem See, zwischen Scheunen
und wilden Ranken, ein Gebrodel von Leben irgendwo auf. Männer mit schwarzen
Ringelbärten, hüpfende Halbwüchsige, Babies. Größtenteils urweiblicher Eigen-
bau. Man spricht von neunzehn unehelichen Kindern. Eines mag ein Fehltritt
sein, neunzehn sind souveränes Prinzip. Diese Zusammenrottung folgt fasziniert
einem watschelnden Zentrum. Das ist ein Weib, wie die Sarmatische Tiefebene,
formlos, maßlos, steppenbraun, mit Gelenken gleich Schlagbäumen, klirrend
von goldenen Armbändern, Goldgehängen in den langen Buddhaohren, einem
hellblau-weiß karierten Jumperkleid und lila Turban. Hinter Bergen von Backen-
knochen stehen ihr nach innen geschrägt erdalte Augen. Von ganz anderm Alter
als der etwa fünfzigjährige Körperspeck.
So schaut eben ein erhabener Lurch aus der Triasformation, wenn auch in
blaukariertem Jumperkleid, hinter seinen Jochbögen und Stirnhöckern hervor,
einem menschlichen Säugetier von gestern ins milchige Parvenugesicht.
Dem Gebrodel von Leben um sie her mischt sich, mythisch intim, auch aller-
hand Viehzeug bei; ihr nach gurrt immer eine Schleppe weißer Tauben, dressierte
junge Hunde, schakalartige, die auf Verlangen Kopf stehen, laufen nebenher,
der Weg ins Haus führt durch die Küche, an Ferkeln, Karnickeln und Hühnern
entlang. Diese dämonische Eimutter, zugleich grotesk und imposant, besitzt in
Frankreich, im Tessin und in Ägypten eigene Ländereien, wo sie ihr Heilgemüse
teils zieht, teils wild Gewachsenes nach strengen Riten sammeln läßt von Kindern,
Enkeln, Onkeln: der ganzen Tribus, die ihrem Bann bewußtlos folgt. Das emst
und imst ihr immer frische Ernten zu; vor einem Jahr Gepflücktes taugt nichts
mehr. Uralte Tradition ist dieses Wissen, das nach der Mutterfolge sich vererbt
in einem Stamm von Herboristen aus süddeutsch-afrikanisch-schweizerischem
Blutgemisch. An zweiunddreißig Rinden-Wurzel-Blüten-Blätter-Stengel-Kräuter-
Arten sind fast in jedem ihrer Tees. In jeder Pille dreihundertzweiundzwanzig
und darüber. Wahrscheinlich stehen diese Droguen in jedem Pharmazeuten-
lexikon vermerkt. Das Urweib aber weiß zudem genau, bei welchem Sonnen-
oder Sternenstand, in welcher Mondesphase, welcher „holden Feuchte" ein Heil-
gewächs gepflückt, gebrochen oder ausgehoben werden muß. Auch die Indianer
schälen stets nur von der Ostseite der Bäume Rinden ab, weil dort die größere
Heilkraft reift.
Abschätzig darob zu lächeln wäre deplaciert. Neueste Pflanzenphysiologie,
Sir Boses Versuche geben Urweib wie Indianern recht. Für reizbare Gewächse
ist Licht- und Schattenwechsel, schon eine Wolke, die vorüberzieht, ein Nerven-
schock, der den Chemismus ändert. Also ist es gar nicht gleich, wie die entsetz-
liche Verwundung des Pflückens sich vollzieht, ob etwa Angstgifte dabei ent-
stehen wie bei gejagtem Wild, die, einem kleineren Tiere eingeimpft, töten.

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