PRAG UND DIE PRAGER
Von
KARL TSCHUPPIK
Thomas Garigue Masaryk, im Prag der Habsburger-Monarchie Professor an
der tschechischen Universität, las Soziologie. Seine Lieblingsthemen waren
Auguste Comte, Kritik Hegels und des Marxismus. Es kam vor, daß man von der
deutschen Universität, auf ein, zwei Stunden, zu ihm desertierte. Dort kämpfte
seit Jahrzehnten ein uralter Herr gegen Kant und das Schlafbedürfnis seiner Hörer.
In Masaryks Kolleg war es stets sehr lebhaft. Zu Beginn der Neunzigerjähre —
es waren Krisenjahre der österreichischen Monarchie — wetterleuchtete es unter
der tschechischen Studentenschift. Es schien, als ob die Gene-
ration von 1890—1895 mit einem Male die gesamte Literatur
Europas entdeckt und sie der eignen Bibliothek hätte einver-
leiben wollen; den deutschen Sozialismus und die nordische
Literatur, Karl Marx und Ibsen, Spencer und die deutsche
Vulgärphilosophie, Dostojewski und Nietzsche, den franzö-
sischen Naturalismus und Strindberg. Die tschechische Jugend,
ehedem nur um die eigene Geschichte bemüht, las jetzt in
einem Jahre mehr als andere Völker in Jahrzehnten. Die Wir-
kung war ungeheuer. Die Bibliothek bekamBeine und rebellierte
in den Straßen Prags. Die Polizei des alten Österreichs sorgte
dafür, die Erregung nicht abkühlen zu lassen; einer ihrer Lock-
spitzel, der sonderbare Agent Mrva, der als „Rigoletto von
Toscana" Verschwörungen romantischen Stils angezettelt
hatte, um die Teilnehmer nachher zu verraten, wurde am
Weihnachtsabend 1893, mit sechs Dolchen im Rücken, unter
dem Christbaum hervorgezogen. Franz Josef, sonst ein milder
Josef Lir, Masaryk
Herrscher, sandte seinen Alba, den Grafen Franz Thun, nach Prag, ein strenges
Gericht zu halten. 179 Angeklagte wurden zu 278 Jahren Kerkers verurteilt.
Die Geschichte des alten Habsburger-Reichs besaß aber ihre eigene Dialektik:
Die jungen Leute, die Alba-Thun hatte verhaften und von den Ausnahmegerichten
aburteilen lassen, sind fünfundzwanzig Jahre später auf besondere Art auferstan-
den: als Minister und Nationalräte der tschechoslowakischen Republik. Der
Professor der Soziologie Thomas Garigue Masaryk wurde der erste Präsident des
selbständigen tschechischen Staates.
Die Tschechen haben mit den Franzosen die Vorliebe für die große Geste
historisch-symbolischer Akte gemein. Die Napoleon-Säule auf der Place Vendöme
war zweimal in Gefahr, \ernichtet zu werden. Das erste Mal, nach Waterloo,
widerstand sie dem Ansturm royalistischer Jünglinge. Nur das Erzbild Napoleons
zerschellte auf dem Boden, die Säule blieb. Das zweite Mal zerbrach sie unter den
Schlägen der Kommune. Eine der ersten Aktionen der tschechischen Republik,
genau dreihundert Jahre nach dem größten Symbolakt der böhmischen Geschichte,
dem Prager Fenstersturz, war die Niederwerfung der Mariensäule auf dem Alt-
städter Ring, die Kaiser Ferdinand II., 1620, nach der Schlacht am Weißen Berge,
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Von
KARL TSCHUPPIK
Thomas Garigue Masaryk, im Prag der Habsburger-Monarchie Professor an
der tschechischen Universität, las Soziologie. Seine Lieblingsthemen waren
Auguste Comte, Kritik Hegels und des Marxismus. Es kam vor, daß man von der
deutschen Universität, auf ein, zwei Stunden, zu ihm desertierte. Dort kämpfte
seit Jahrzehnten ein uralter Herr gegen Kant und das Schlafbedürfnis seiner Hörer.
In Masaryks Kolleg war es stets sehr lebhaft. Zu Beginn der Neunzigerjähre —
es waren Krisenjahre der österreichischen Monarchie — wetterleuchtete es unter
der tschechischen Studentenschift. Es schien, als ob die Gene-
ration von 1890—1895 mit einem Male die gesamte Literatur
Europas entdeckt und sie der eignen Bibliothek hätte einver-
leiben wollen; den deutschen Sozialismus und die nordische
Literatur, Karl Marx und Ibsen, Spencer und die deutsche
Vulgärphilosophie, Dostojewski und Nietzsche, den franzö-
sischen Naturalismus und Strindberg. Die tschechische Jugend,
ehedem nur um die eigene Geschichte bemüht, las jetzt in
einem Jahre mehr als andere Völker in Jahrzehnten. Die Wir-
kung war ungeheuer. Die Bibliothek bekamBeine und rebellierte
in den Straßen Prags. Die Polizei des alten Österreichs sorgte
dafür, die Erregung nicht abkühlen zu lassen; einer ihrer Lock-
spitzel, der sonderbare Agent Mrva, der als „Rigoletto von
Toscana" Verschwörungen romantischen Stils angezettelt
hatte, um die Teilnehmer nachher zu verraten, wurde am
Weihnachtsabend 1893, mit sechs Dolchen im Rücken, unter
dem Christbaum hervorgezogen. Franz Josef, sonst ein milder
Josef Lir, Masaryk
Herrscher, sandte seinen Alba, den Grafen Franz Thun, nach Prag, ein strenges
Gericht zu halten. 179 Angeklagte wurden zu 278 Jahren Kerkers verurteilt.
Die Geschichte des alten Habsburger-Reichs besaß aber ihre eigene Dialektik:
Die jungen Leute, die Alba-Thun hatte verhaften und von den Ausnahmegerichten
aburteilen lassen, sind fünfundzwanzig Jahre später auf besondere Art auferstan-
den: als Minister und Nationalräte der tschechoslowakischen Republik. Der
Professor der Soziologie Thomas Garigue Masaryk wurde der erste Präsident des
selbständigen tschechischen Staates.
Die Tschechen haben mit den Franzosen die Vorliebe für die große Geste
historisch-symbolischer Akte gemein. Die Napoleon-Säule auf der Place Vendöme
war zweimal in Gefahr, \ernichtet zu werden. Das erste Mal, nach Waterloo,
widerstand sie dem Ansturm royalistischer Jünglinge. Nur das Erzbild Napoleons
zerschellte auf dem Boden, die Säule blieb. Das zweite Mal zerbrach sie unter den
Schlägen der Kommune. Eine der ersten Aktionen der tschechischen Republik,
genau dreihundert Jahre nach dem größten Symbolakt der böhmischen Geschichte,
dem Prager Fenstersturz, war die Niederwerfung der Mariensäule auf dem Alt-
städter Ring, die Kaiser Ferdinand II., 1620, nach der Schlacht am Weißen Berge,
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