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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 4
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Pringsheim, Klaus: Zustand heutiger Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0334
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Mißverständnisses. Denn wem, proklamieren sie, gehört die Gegenwart? Der
Jugend. Nichts für ungut, das ist Unfug. Die Zukunft hat der Jugend zu gehören,
selbstverständlich. Aber auch die Gegenwart, das geht zuweit. Nur auf die Ver-
gangenheit erhebt sie keinen Anspruch, denn aus der machen sie sich nichts. Be-
sonders das neunzehnte Jahrhundert war bekanntlich sehr muffig, die Menschen
kamen schon als Großväter auf die Welt.
Alle Musik, die bis 1918 war, ist den Heutigen Großväterzeit, finsteres Mittel-
alter; 1918 beginnt die Aera der neuen Jugend. Die fühlte sich nicht, wie Jugend
in anderen Zeiten, zur Verteidigung dessen, was ihre Führer geschaffen, sondern,
wurzellos von Schicksal, selbst zur Führung aufgerufen; auf die eben Zwanzig-
jährigen, die den politischen Umsturz als Schüler mitgemacht, sollte es ankommen
— und gewiß, es kam viel auf sie an. Noch nicht zwar, und sicher heute nicht
mehr auf das gerade, was sie damals schufen; aber darauf überhaupt, daß sie unter
Verhältnissen, die alles eher als ermutigend waren, den Mut zu sich selbst fanden
und den Glauben an eine Aufgabe, die, der Lösung harrend, ihnen zugewiesen
sei. Ein wenig war es wohl der Mut der Verzweiflung, den sie hatten, und er ließ
sie übers Ziel schießen; aber wenige Jahre später, ist es heute in der Tat, als läge
das weit hinter uns. Jedenfalls, die Generation dieser nun Dreißigjährigen ist da,
ein Faktor der heutigen Weltmusik. Heißt das, daß sie die heutige Zeit sind, die
Gegenwart schlechthin?
Wer soll in zehn, wer vielleicht in zwanzig Jahren Gegenwart sein? Wir wün-
schen keineswegs, daß unsere Kreneks so bald vom Schauplatz abtreten; wir wün-
schen ihnen ein langes Leben, und jeder von ihnen möge noch an der Schwelle
seines achtzigsten Lebensjahres der Welt einen „Falstaff" schenken, keiner kann
verlangen, daß wir mehr von ihm erwarten. Aber mit der Vollendung hat es
durchaus keine Eile, wir haben Geduld und Vertrauen. Also: Kredit, soviel sie
wollen; aber lassen wir uns nicht als gültige und endgültige Leistung, als Er-
füllung aufreden, was erst Ankündigung ist. Mit der berliner Hast, die der kleine
Moritz für amerikanisches Tempo hält, läßt sich nicht Geschichte machen; schon
gar nicht Musikgeschichte. Jugend ist ein Reiz, aber keine Qualität; eher ein
mildernder Umstand. Im amerikanischen Strafvollzug reicht der Schutz, dessen
Jugendliche sich erfreuen, über das dreißigste, in einzelnen Staaten bis zum vier-
zigsten Lebensjahr. Üben wir amerikanische Milde.
In allen europäischen Musikländern ist nach dem Krieg etwas heraufgekom-
men, das sich „Neue Musik" nannte und den leidenschaftlichen Willen hatte, es zu
werden. Aber wieder ist es ein Mißverständnis, die Sache dieser Neuen Musik
mit der Generation zu verwechseln, die sie, natürlicherweise, zu der ihren machte
— ein Mißverständnis, doch in keinem Land hat es so groteske Formen angenom-
men wie in unserm: in keinem der Länder, in denen es bei der Liquidation des
Krieges ohne politischen Systemwechsel abging; und vor allem nicht in Frank-
reich, wo der künstlerische Fortschritt seine Tradition hat und seinerseits immer
bemüht bleibt, zur Tradition korrekte Beziehungen zu unterhalten. Im Programm
der berühmten Six, die durch ihren Zusammenschluß als erste den Willen zur
Erneuerung manifestiert haben, war ein Hauptpunkt: Belebung der klassischen
französischen Tradition. Der französischen, nebenbei — oder eigentlich nicht
nebenbei bemerkt; wie in Frankreich, wirkte und wirkt in Italien das Motiv der

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