Lespinasse
WIELAND VOR NAPOLEON
BEGEGNUNGEN IN WEIMAR UND ERFURT
Von
FRIEDRICH BURSCHELL
it dem glänzendsten Gefolge von der Welt, mit einem Kaiser und vier
Königen hinter sich, war Napoleon zum Besuch des Weimarer Hofes aus
der Kongreßstadt Erfurt herübergekommen. Von IFieW erfuhr er durch den
Fürstprimas Dalberg, der bei Tisch nicht ohne Absicht erzählte, daß der in
Weimar lebende Dichter, den hohen Herrschaften vermutlich aus seinen erotischen
Erzählungen recht gut bekannt, außerdem ein politischer Schriftsteller von so
prophetischem Scharfblick sei, daß er schon während der Revolution dem franzö-
sischen Volk den Rat erteilt habe, den großen Mann an die Spitze zu stellen, dem
heute gegenüberzusitzen das schönste Glück seines Lebens bedeute. Der Kaiser,
sofort aufmerksam, wenn man ihm von Menschen erzählte, die öffentlich über
ihn geschrieben hatten, wünschte diesen Dichter sogleich kennen zu lernen.
Wieland aber, so begierig er selber war, mit dem Diktator Europas bekannt
zu werden, hatte sich mit der ihm eigenen Bescheidenheit und Scheu vor höfischem
Zeremoniell für diesen Tag entschuldigen lassen. Abends bei der Vorstellung
im Theater, wo Talma mit der von Napoleon mitgeführten Truppe den Cäsar
in Voltaires Tragödie spielte, fiel dem Kaiser in einer kleinen Seitenloge der
merkwürdig kluge, mit einem schwarzen Samtkäppchen bedeckte Kopf eines
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