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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 7
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Lazar, Eugen: Budapest gestern und heute
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0673
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die Vorstadt das von Molnar, Heltai und den Jungen geschaffene Pesterisch. —
Ein Budapester Sommerabend, wenn die ganze Stadt längs des Donaukorsos
und der Andrässy-Straße vor den Cafes im Freien saß, wenn der Geruch von
hunderttausend Melonen, von Sommer, Frauen, Akazien und Korruption in der
Luft hing, wenn man erwog, ob man die Nacht im Stadtwäldchen oder auf der
Margareteninsel verbringen solle und sich für den Bac-Tisch entschied; eine
Premiere im Lustspieltheater, wenn die Elite des Faubourg St. Leopold, Finanz-
magnaten, ihre schönen Frauen und noch schöneren Geliebten, die Logen füllten
und im Parkett die Klique des Autors sich mit der Gegenklique über den Grad
des Presse-Erfolges einigte, solche Abende gehören zu den nie wiederkehrenden
Gelegenheiten, Menschen zu sehen, die, im Zenith ihres Glücks, nichts von der
unmittelbar bevorstehenden Katastrophe ahnen.
Der Krieg kam, Oktoberrevolution, Bolschewismus, rumänische Besetzung,
Konterrevolution kamen. Was war, kann nie wieder sein. Nicht nur, weil Ungarn
drei Fünftel seines Gebietes verloren hat und Budapest heute die Hauptstadt
eines kleinen Bauernlandes ist. In Ungarn haben zwei Rassen neben- und mit-
einander gelebt, sich gut vertragen, Getreide gebaut, Vieh gezüchtet, Handel
getrieben, eine Hauptstadt unterhalten, die sie unterhielt. Das ist für immer
vorbei. Sie wissen zu viel voneinander. Wohin der Liberalismus führt, die einen;
was der Stuhlrichter imstande ist, die andern. Der Gentry hat dem Budapester
allerlei Schwindel zugetraut, aber nicht die Errichtung einer Proletarierdiktatur;
der Budapester aber, der die Herren nur von Unterhaltungen bei Zigeunermusik
her kannte, ahnte nichts von ihrer Fähigkeit, eigenhändig zu henken.
Diese Gentry, die für sich die Bezeichnung „ungarischer Herr" und „Herrn-
dame" in Anspruch nimmt und das Bewußtsein ihres Herrntums für die psychische
Repräsentanz einer biologischen Tatsache ansieht, sie mußte in den letzten
Friedensjahrzehnten zusehen, wie ihr Boden — nicht nur metaphorisch — an
den fleißigen Kaufmann verloren ging. Verarmt, verschuldet, verbittert, erlebte
sie die Revolution, den Verlust der politischen Macht, die Zerstückelung des
Landes. Durch eine einmalige weltpolitische Konstellation mit einem Schlag
in ihre ehemaligen Machtstellungen wiedereingesetzt, nahm sie Rache für alles
an den Budapestern. Und sie umgab die wiedereroberten Stellungen mit einem
für Jahrhunderte berechneten Schutzwall, an dessen Erhöhung und Dichtung
sie unausgesetzt tätig ist. Sie hat den Numerus Clausus an den Hochschulen ein-
geführt, um zu verhindern, daß Wissen — Wissen ist Macht — in die Köpfe des
fremdrassigen Nachwuchses übergehe. Sie wird nicht zugeben, daß wieder
Liberalismus gespielt werde.
Heute herrscht sie in Budapest. Sie hat ihren Wohnsitz aus den „besetzten
Gebieten" nach der Hauptstadt des „Mutterlandes" verlegt, man findet sie in
allen Ämtern, in den Verwaltungen der Banken und Industrien, auf den Lehr-
stühlen der Hochschulen, in den Redaktionen und Theaterkanzleien. Auf dem
Donaukorso promeniert in Uniform und Zivil sie.
Budapest schmückt sich. Schöner, glänzender als je präsentiert sich die Stadt
dem Fremden. Unter ihrer Gala leidet sie Mangel an materiellen und geistigen
Gütern, sie hungert, zittert, hofft. Am 20. November wird der verbannte König
Otto großjährig.

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