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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 10
DOI article:
Dmitrijewskij, S.: Der menschenscheue Tschitscherin
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0984
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denselben Kapitalisten anknüpfen. Die Blockade durchstoßen, die Kaufmöglich-
keit notwendiger Waren sichern, den Absatz der Ware und die Beschaffung von
Gold ermöglichen, den Verzicht auf die Unterstützung der weißen Bewegung
erlangen, die formelle Anerkennung durch die Großmächte durchsetzen, Ver-
trauen gewinnen, Kredite, technische Hilfe bekommen. In den Deklarationen war
von der Abschaffung der Geheimverträge, vom Ende der Geheimdiplomatie die
Rede. In der Praxis aber mußte man Widersprüche in der europäischen Politik
erfühlen, gewundene Gänge, wenn nicht zu Geheimverträgen, so allenfalls zu
geheimen Abmachungen finden. Vieles von dem, was in den diplomatischen
Kabinetten geschah, konnte man den Völkern der Welt nicht erzählen. Vieles
mußte selbst dem eigenen Volk ein Geheimnis bleiben. In Reden trat man gegen
jeden Nationalismus auf, verkündete den Untergang aller nationalen Organismen,
strebte danach. Man verkündete den völligen Bruch mit dem geschichtlichen
Rußland. In der Praxis aber war man gezwungen, die nationalen Interessen Ruß-
lands zu schützen — und die Grundlinien des Tschitscherinschen Weges führten
zur traditionellen russischen Politik.
Im Westen: alles von Bajonetten versperrt, nach Möglichkeit ein stabiler
Zustand. Das Maximum: eine partielle Wiederherstellung der alten russischen
Grenzen. Als erster Schritt in dieser Richtung — die Rückkehr Bessarabiens. Ein
Spekulieren auf die Interessengegensätze der europäischen Großmächte, der Ver-
such, sich auf eine der Großmächte zu stützen, vielleicht sogar ein Bündnis oder
ein Abkommen mit ihr. Daher die geradezu irrealen langen Unterhaltungen mit
Graf Rantzau, daher die Verhandlungen in Berlin, und darauf, wie ein plötzliches
Aufflackern, die entstandenen Hoffnungen durch die französische Anerkennung.
Die Hauptaufgaben aber sind im Osten. Dort gibt es eine Menge der verwickel-
testen Interessen. Ein Knäuel phantastischer Angelegenheiten, die geradezu nicht
vom Leben, sondern von einem genialen Romandichter erzeugt sind. Hohes Spiel
in China. Die Besetzung der Mongolei. Der stets steigende Einfluß im westlichen
China. Die Russifizierung Mittelasiens unter der Flagge der Entwicklung der
nationalen Autonomie. Die Schaffung einer Basis, um der indischen Grenze näher-
zurücken. Die Freundschaft mit Amanullah. Die Eroberung des persischen
Marktes und die Steigerung des russischen Einflusses. Das Eindringen in Indien
selbst — mit den Fühlhörnern der Komintern (der Kommunistischen Internatio-
nale). Ein Schlag gegen die empfindlichste Stelle Englands. Freundschaft mit der
Türkei. Intrigen in Kleinasien, im Hedschas, im Irak. Die ägyptischen Angelegen-
heiten. Das Eindringen sogar in das ferne Indo-China. Alles verflocht sich in dieser
Politik: Bestechungen, Intrigen, das Spekulieren auf die vornehme Selbstauf-
opferung der um die nationale Selbständigkeit kämpfenden Völker, die Unter-
stützung der Generale, Verrat, Spionage, Petroleum, Baumwolle, Gold, Blut. In
diesem ganzen komplizierten Spiel orientierte sich Tschitscherin nicht unge-
schickter als auf der Tastatur seines Flügels. Und das war ein interessantes Spiel,
wert, daß man ihm sein Leben opfere. Die Hauptsache aber: geradeaus, in der
nebligen Ferne stand das mit Blut, mit den Traditionen der früheren Generationen
vererbte Bild Großrußlands.
Dies alles ist vorüber. Andere Zeiten — andere Menschen, Methoden, Ziele.
Das Volkskommissariat des Äußeren ist zur Seite geschoben. Im Vordergrund

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